Das Soziale in der EU stärken
Die Policy Study „Three Ideas for a Stronger Social Europe in a Post-Covid-19 Recovery“, entstanden im Rahmen des Young Academics Network von Renner-Institut und FEPS, beschäftigt sich anhand unterschiedlicher Politikbereiche mit der Europäischen Säule Sozialer Rechte, also dem Ziel, die EU gerechter und inklusiver zu machen. Emre Gömeç hat diese Studie gemeinsam mit drei Kolleg:innen verfasst; er gibt Einblick in die Untersuchungen und Erkenntnisse.
Die inhaltliche Klammer eurer Studie ist die Europäische Säule Sozialer Rechte, also das Ziel, die EU gerechter und inklusiver zu gestalten. Welchen Stellenwert hat dieses Ziel in der EU?
Emre: Die Grundsätze eines „Sozialen Europa“ gibt es in der EU eigentlich schon seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft in Rom. Leider sind diese Grundsätze aber im Zuge wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen in den Hintergrund getreten. Damit wird soziale Ausgrenzung zunehmend zum Problem, vor allem im Kontext von tiefgreifenden Transformationen – Beispiel Digitalisierung – sowie im Kontext von Krisen ausgelöst durch Klimaerhitzung und Pandemie. Die Europäische Säule Sozialer Rechte ist jetzt ein wichtiges Instrument, um sich in der Bearbeitung dieser Krisen und Transformationen an der Idee des Sozialen Europas zu orientieren und die Vision für ein neues „soziales Regelwerk“ festzulegen. Sie bringt klare Grundsätze und Rechte zum Ausdruck, die für faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme im 21. Jahrhundert unerlässlich sind.
Ihr beschäftigt euch mit unterschiedlichen Anwendungsfeldern dieses Themas: mit sozialen Rechten und Mobilität, mit Geschlechterverhältnissen, sowie mit Arbeitskämpfen und Finanzialisierung. Letzteres war dein Schwerpunkt, bitte gib uns Einblick: Worum geht es dabei?
Emre: Ausgehend von den USA wurde die Weltwirtschaft nach den Prinzipien des Neoliberalismus umstrukturiert; eine wichtige Verkörperung dieser Prinzipien ist die Maximierung des Shareholder Value. Im Zentrum dieses Strukturwandels stand die Arbeitskraft. Um die Arbeitskosten zu senken, verlagerten Unternehmen ihre Produktion in Niedriglohnländer und bauten Arbeitsrechte ab. Auch die Europäische Union hat diese Prinzipien in verschiedenen Formen vorangetrieben, ermutigt von der EU-Kommission, umgesetzt in den einzelnen EU-Ländern. Das ist der Hauptgrund für die Erosion des Sozialen Europas. So verbreiteten sich prekäre, nicht standardisierte und Niedriglohnjobs in der EU.
Ihr analysiert auch die Entwicklung sozialer Ungleichheit im Zuge der Covid-19-Pandemie. Dieses Kapitel trägt die Überschrift: „A lost opportunity for the EU?“ Warum diese Überschrift?
Emre: Viele Untersuchungen zeigen, dass die EU die Ziele der Europäischen Säule Sozialer Rechte auch schon vor der Covid-19-Pandemie nicht erreicht hat. Vereinheitlichungen und Annäherungen von Wirtschafts- und Sozialsystemen innerhalb der EU können die Form von Auf- und Abwärtskonvergenzen einnehmen. Bei Aufwärtskonvergenzen treffen sich die Mitgliedstaaten auf einem höheren Niveau, also mehr Leistungen, mehr Sicherheit, mehr Regulierungen. Bei Abwärtskonvergenzen hingegen treffen sich die Mitgliedstaaten auf einem niedrigeren Niveau, es kommt also zum Abbau von Sozialleistungen und Regulierungen. Die Zahlen zeigen, dass sich die Mitgliedsländer nach unten angenähert haben. Obwohl die Covid-19-Pandemie viele Schwierigkeiten und Herausforderungen mit sich bringt, ist es eine Zeit, in der unorthodoxe Entwicklungen toleriert werden. Die Pandemie bietet also auch eine Chance. Diese Chance sollte jedoch von der EU verbindlicher vorangetrieben werden.
Wie hast du die Zusammenarbeit innerhalb des Young Academics Network erlebt?
Emre: Meine Erfahrungen sind aus mehreren Gründen alle positiv. Erstens, und vor allem, haben wir in meiner Arbeitsgruppe solidarische Freundschaftsbeziehungen aufgebaut. Wir haben gelernt, einander wertzuschätzen und Vereinbarungen einzuhalten. Die Zusammenarbeit mit kritischen Menschen aus verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlichem Hintergrund bot großartige Gelegenheiten zum Wissensaustausch. Außerdem hat es meine Perspektive als Ökonom herausgefordert. Ich bin auch dankbar für die Unterstützung der Mentor:innen und des Koordinationsteams.
Zur Person
Emre Gömeç ist Doktorand an der Universität Kassel und Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland. Er ist außerdem Forscher im Academic-Industry Research Network (theAIRnet) in den USA. Seine Forschungsgebiete sind Finanzialisierung, Mitbestimmung und Innovation. In seiner Dissertation vergleicht er als Fallstudie die Auswirkungen von Corporate-Governance-Modellen zweier nordischer Telekommunikationsausrüster, Nokia und Ericsson, auf Innovation und unternehmerische Nachhaltigkeit.