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Die politische Bildungsaufgabe

Rede des Bundeskanzlers Dr. Bruno Kreisky zur Konstituierung des wissenschaftlichen Beirates des Dr.-Karl-Renner-lnstitutes im Dezember 1972.

Zu Beginn eine durchaus persönliche Bemerkung: Für mich ist die Gründung des Dr.-Karl-Renner-Institutes als Zentrum der politischen Bildungsarbeit der sozialistischen Bewegung die Verwirklichung eines Zieles, das ich mir seinerzeit, als mir der erste zentrale Vertrauensauftrag in der Sozialistischen Arbeiterjugend erteilt wurde, gesetzt habe. 

Vor mehr als 40 Jahren wurde ich zum Obmann des sogenannten Reichsbildungsausschusses der Sozialistischen Arbeiterjugend gewählt, und damit wurde mir die Verantwortung für die politische Bildung und sozialistische Erziehung, wie wir damals sagten, der in der sozialdemokratischen Bewegung organisierten Arbeiterjugend übertragen.

Ich wurde, wie alle anderen Vertrauensmänner und -frauen der Sozialdemokratie, an der Erfüllung dieses Auftrages durch die Etablierung der austrofaschistischen Diktatur gehindert.

Übrigens, in wenigen Monaten wird es 40 Jahre her sein, daß die sozialdemokratischen Abgeordneten aus dem Parlament durch einen Staatsstreich vertrieben wurden. Die Sozialdemokratische Partei verfiel ein Jahr später der Auflösung, und wir, die wir die Arbeit für sie fortsetzten, wurden in die Illegalität gedrängt.

Alles Ereignisse übrigens, die unlängst in einer Radioreportage in so ,,sachlicher Weise“ dargestellt wurden, daß sich kaum einer, der diese Zeit nicht miterlebt hat, wirklich ein Bild machen konnte, was damals wirklich geschehen ist. Ja noch mehr, er mußte zu dem Schluß gelangen, daß alles mehr oder weniger mit Naturnotwendigkeit eintreten mußte und somit eigentlich - wenn man von kleinen menschlichen Fehlern absieht - in bester Ordnung war. ,,Law and order“ waren wiederhergestellt worden, wobei mit beträchtlicher Generosität der Begriff von Gesetz und Gesetzmäßigkeit im Interesse der Herrschenden interpretiert wurde. Unter Recht verstand man das Standrecht und unter Ordnung den Polizeistaat.

Diese Darstellung ist ein Beweis mehr dafür, wie in der scheinbaren Versachlichung historischer Vorgänge - nehmen wir zugunsten der Verfasser dieser Sendung an unbewußt - ein hohes Maß an Manipulation stecken kann.

Es gibt keine Vermittlung politischer Bildung, die sich in Einklang bringen läßt mit dem, was manche unter Sachlichkeit verstehen oder als solche ausgeben. Wahrscheinlich wird man ein Maß an erreichbarer Objektivität nur dadurch erreichen, daß es zur Konfrontation der Standpunkte kommt und man es dem Urteil des einzelnen überlassen muß, sich seine Meinung zu bilden. So soll es ja in der Politik überhaupt vor sich gehen, so sollten die sogenannten Massenmedien ihre Aufgabe verstehen.

In der Regierungserklärung vom 27. April 1970, und ich habe die gleichen Gedankengänge in der vom 5. November 1971 wiederholt, habe ich folgendes zum Ausdruck gebracht:

Hier scheint es mir nun richtig, auch über einen Aufgabenbereich zu sprechen, der der Förderung des Staates, allerdings in einer besonders behutsamen Weise, bedarf: Es ist das die Vorbereitung des Staatsbürgers für seine Mitwirkung in der Demokratie.

Wie wichtig es hier ist, sich in guter Zeit mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, geht daraus hervor, daß es heute in der amerikanischen politischen Wissenschaft zahlreiche Kritiker von untadeliger demokratischer Gesinnung gibt, die die Bedeutung der Parteien als Verbindungsglied zwischen Regierung und Regierten in Frage stellen. Auch in der deutschen politischen Wissenschaft, wie in der europäischen überhaupt, gibt es heute Kritiker an den Parteien und ihrer Funktionsfähigkeit, die, wie es in der einschlägigen, etwas komplizierten Sprache heißt, meinen, daß die Parteien - und ich zitiere - als kollektive Legitimationsmechanismen nach unten verstopft sind, daß sie bei äußerlicher Funktionsaufrechterhaltung tatsächlich an Funktionssubstanz verloren haben ...

Wie dem auch immer sei, glaube ich, daß diesen Tendenzen und Auffassungen am besten entgegengewirkt werden kann, wenn die Parteien in die Lage versetzt werden, den Staatsbürgern, die sich mit politischen Fragen zu befassen wünschen, eine politische Schulung auf breitester Basis ermöglichen zu können. Ohne mich in nähere Betrachtungen über den Charakter dieser politischen Bildungsaufgabe einzulassen, wird wohl allgemeine Übereinstimmung darüber herrschen, daß diese Aufgabe möglichst durch Personen erfolgen soll, die für sie hervorragend qualifiziert sind.

Hier bedarf es beträchtlich höherer Mittel, als gegenwärtig zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung ist bereit, den Entwurf eines diesbezüglichen Förderungsgesetzes dem Parlament ehestens vorzulegen, und ist überzeugt, daß sie so zusammen mit den im Parlament vertretenen Parteien einen Beitrag zur Vertiefung und Verlebendigung unseres demokratischen Lebens leisten kann.

Gleichermaßen scheint es von besonderer Bedeutung zu sein, die das geistige Leben eines Landes befruchtenden Zeitschriften zu einem Teil von ihren ständigen Existenzsorgen zu befreien, was allerdings nur unter Voraussetzungen erfolgen kann, die jegliche Einflußnahme des Staates oder der Regierung auf die Führung dieser Zeitschriften ausschließen.

In der Zwischenzeit ist - wie Sie wissen - auch dieser Teil der Regierungserklärung verwirklicht worden. Gelegentlich hört man Klagen über den Tiefstand der politischen Auseinandersetzungen.

Wie dem auch immer sei, überwunden werden kann dieser Tiefstand jedenfalls nicht durch arrogantes Distanzieren, auch nicht dadurch, daß man sich über das Banausentum in der Politik mokiert. Diesem Zustand der Dinge kann nur abgeholfen werden dadurch, daß diejenigen, die in der Politik wirken, hiefür besser vorbereitet werden.

Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Hier scheint ein anderes ebenso wichtig zu sein, nämlich - und ich habe darauf schon verschiedentlich hingewiesen - daß viele der uns heute zur Verfügung stehenden demokratischen Einrichtungen, die vielfach für sakrosankt erklärt werden, doch ebenso dem Wandel der gesellschaftlichen Einrichtungen unterliegen. Und daß die Grundsätze der Demokratie in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft nicht den Charakter erstarrter Dogmen annehmen, soll dadurch, daß sie immer wieder und immer aufs Neue der kritischen Prüfung auf ihre Gültigkeit unterzogen werden, verhindert werden. Es besteht die Gefahr, die sich heute schon gelegentlich anzudeuten scheint, daß die Notwendigkeit der Parteien in Frage gestellt wird, was wieder ungewollt zum Aufleben ständestaatlicher Vorstellungen, angesichts des relativ guten Funktionierens der Paritätischen Kommission, führen kann.

Hier hilft kein noch so gut gemeintes demokratisches Pathos, gebraucht an Festtagen des Staates, auch nicht die Verankerung der Parteien in der Verfassung unter gleichzeitiger Festlegung eines kategorischen Imperativs und der damit verbundenen finanziellen Dotierung. Daß Parteien in der Verfassung Erwähnung finden, halte ich für an sich denkbar, daß sie sich dem Vereinsgesetz unterwerfen für diskutabel; für nicht diskutabel allerdings halte ich, daß einer Behörde überlassen wird zu entscheiden, ob eine Partei eine Partei ist, ob ihre Tätigkeit im Einklang mit der Verfassung steht, oder ob sie überhaupt zugelassen werden kann. Das würde lediglich den autoritären Charakter des Staates verstärken und unabsehbare Gefahren für die Demokratie heraufbeschwören.

Verdrossenheit, Irritation, mangelndes Vertrauen in die Einrichtungen der Demokratie können nur beseitigt werden durch kritisches Wissen und die Einsicht in die Notwendigkeit gesellschaftspolitisch motivierter dynamischer Prozesse und den Willen, sie herbeizuführen.

Und deshalb scheint mir das Herriotsche Wort, das ich oft gebrauche, wonach man die Demokratie stabilisiert, indem man sie in Bewegung hält, eine echte politische Weisheit zu sein, wobei für demokratische Sozialisten sie so interpretiert werden müßte, daß eben ihre Grundsätze immer neue gesellschaftliche Bereiche umfassen und durchfluten müssen. Was nun die Wissensvermittlung betrifft, wie sie durch Einrichtungen wie das Dr.-Karl-Renner-Institut erfolgen soll, hiezu ein paar kurze Bemerkungen.

Ich habe in Skandinavien erlebt, wie innerhalb des Arbeiterbildungswesens während vieler Jahre die Vorstellung vorherrschte, daß in der quantitativen und qualitativen Erhöhung des sogenannten objektiven Wissens ein Akt der Emanzipation an sich vollzogen werde. Da hat man es als Aufgabe betrachtet, innerhalb der Arbeiterbildungsverbände von der Stenographie bis zum Sanskrit alles an Wissen zu vermitteln, was bildungsbeflissene und bildungshungrige Menschen aufzunehmen bereit waren. Längst ist man zu der Erkenntnis gelangt, daß es sich hier um einen politischen Irrtum gehandelt hat und daß der Versuch der Entpolitisierung der Arbeiterbildung ein großes Mißverständnis war. Man steht nun im Begriffe, das alles zu korrigieren.

Gewiß, es muß die Aufgabe des Dr.-Karl-Renner-Institutes sein, auch jenes Wissen zu vermitteln, das die dort Lernenden, rein technisch möchte ich fast sagen, fähig machen muß, das, was dort gelehrt wird, auch zu erfassen und weiterzugeben. Aber vor allem wird es darauf ankommen, ihnen zu ermöglichen, die Vielfalt der Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft zu erkennen, weshalb alle jene Bereiche einzubeziehen wären, die hiefür die Voraussetzung sind. Und der Bogen muß sich spannen vom Verständnis über die menschlichen Verhaltensweisen bis zu den Grundsätzen der politischen Ökonomie, vom Sinn für das, was wir unter Kunst verstehen, bis zur Enthüllung der Methoden der Meinungsmanipulation.

Es gilt, den kritischen Staatsbürger zu erziehen.

Und ich habe für das, was darunter verstanden werden muß, nirgends eine bessere Formulierung gefunden, als in einer alten Nummer der Zeitschrift für „Sozialforschung“ (1937) von Max Horkheimer: ,,Selbst zu bestimmen, was sie leisten. Wozu sie dienen soll, und zwar nicht bloß in einzelnen Stücken, sondern in ihrer Totalität, ist das auszeichnende Merkmal der denkerischen Tätigkeit. Ihre eigene Beschaffenheit treibt sie daher zu geschichtlicher Veränderung.“

Durch dieses Dr.-Karl-Renner-Institut werden in Zukunft Generationen von Vertrauensmännern und -frauen der sozialistischen Bewegung gehen. Von dem, was sie in ihm lernen, von den Methoden, die angewendet werden, wird in hohem Maße ihre Qualität als politische Funktionäre und damit die Qualität des politischen Lebens abhängen. Und es wird sich bald zeigen, daß die Einrichtungen, die wir jetzt schaffen, sich allmählich als unzulänglich erweisen, etwa, daß wir umfassenderer bedürfen, anderer pädagogischer Methoden.

Und es wird sich sehr bald zeigen, daß wir in Wirklichkeit erst in der Prähistorie der politischen Allgemeinbildung stehen. Aber der Anfang muß eben gemacht werden.

Und so noch eine Überlegung: Durch die sogenannte Bildungsexplosion, die für unsere Zeit kennzeichnend ist und auch Österreich nun zu erfassen beginnt, werden den Begabungen auch innerhalb jener Klassen, wo sie bisher vernachlässigt wur-en, neue sogenannte Aufstiegschancen eröffnet werden.

Damit kommt es zwangsläufig zu einer Verengung des Begabungsreservoirs, das für die Politik im weitesten Sinn in Betracht kommt. Hier werden neue Aspekte zu beachten sein, um vor allem in jungen Menschen die Freude und Lust, in der Politik zu wirken, zu wecken, vor allem wird ihnen die Notwendigkeit, ihre Pflicht zur Verantwortung, an der gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken, bewußt gemacht werden müssen. Ich habe es mit Absicht vermieden, über die politische Zielsetzung zu reden, weil ich weiß, wie gefährlich es wäre, das in ein paar Sätzen tun zu wollen. Übrigens habe ich unlängst von einer durchaus törichten Auslegung meiner Auffassung, wonach wir uns den sogenannten letzten Zielen bestenfalls asymptotisch anzunähern vermögen, von einem Redner der ÖVP erfahren. Er meinte, daß ich sogar aufgehört hätte, an den Sozialismus zu glauben.

Was soll ich darauf sagen? Die beste Antwort scheint mir zu sein, was Rudolf Wohlgenannt in seinem Buch „Was ist Wissenschaft“ hierüber geschrieben hat: „Daß ein Ideal nicht erreicht werden kann, besagt weder seine Nutzlosigkeit noch die unausweichliche Vergeblichkeit von Bemühungen, sich ihm zu nähern. Wir können hier eine Entsprechung zum Problem der Toleranz erkennen: absolute Toleranz ist unerreichbar, aber ob jemand tolerant ist, erkennt man an seiner stetigen und vor allem in seiner im entscheidenden Fall vorhandenen Bereitschaft, möglichst tolerant zu sein.“

Was soll ich darauf sagen? Die beste Antwort scheint mir zu sein, was Rudolf Wohlgenannt in seinem Buch „Was ist Wissenschaft“ hierüber geschrieben hat: „Daß ein Ideal nicht erreicht werden kann, besagt weder seine Nutzlosigkeit noch die unausweichliche Vergeblichkeit von Bemühungen, sich ihm zu nähern. Wir können hier eine Entsprechung zum Problem der Toleranz erkennen: absolute Toleranz ist unerreichbar, aber ob jemand tolerant ist, erkennt man an seiner stetigen und vor allem in seiner im entscheidenden Fall vorhandenen Bereitschaft, möglichst tolerant zu sein.“