Die Rolle der EU am Westbalkan
Was ist der Stand im EU-Beitrittsprozess der sechs Westbalkanstaaten: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien? Welchen Einfluss hat die EU noch auf die Entwicklungen in der Region? Wie ist es um die europäischen Werte am Westbalkan bestellt? Diese Fragen standen im Vordergrund einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „The EU and the Western Balkans: Losing or Gaining Ground?“ am 16. Dezember in Wien. Es diskutierten der Wirtschaftswissenschafter Branimir Jovanović (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche), Filip Milačić (Friedrich-Ebert-Stiftung, Wien), die kosovarische Menschenrechtlerin Marigona Shabiu, Thomas Stölzl vom österreichischen Außenministerium sowie Tara Tepavac (Universität Belgrad). Moderiert wurde die Diskussion von Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik.
Montenegro und Albanien machen größte Fortschritte
Thomas Stölzl berichtete von den jüngsten Entwicklungen in den Beitrittsgesprächen und hob den Abschluss von drei Verhandlungskapiteln mit Montenegro und die bevorstehende Öffnung eines Clusters mit Albanien hervor. Zudem betonte er die Notwendigkeit einer schrittweisen Integration der Beitrittskandidaten, damit diese bereits während der Verhandlungen wirtschaftliche Vorteile erzielen könnten. Der mit 6 Milliarden dotierte „Growth Plan for the Western Balkans“ setze hier an. Stölzl appellierte an die Länder der Region, sich auch selbst für Reformen verantwortlich zu fühlen.
Höchste EU-Zustimmung im Kosovo
Die größte Unterstützung für einen EU-Beitritt gebe es, wie Marigona Shabiu hervorstrich, im Kosovo. Zugleich werde das Land insbesondere im Vergleich zu Serbien ungleich behandelt, sei mit EU-Sanktionen belegt worden und habe erst spät die Visa-Liberalisierung erhalten, obwohl die Kriterien längst erfüllt worden seien. Auch wenn, so Shabiu, der Weg noch weit sei, werde Kosovo hoffentlich eines Tages der EU beitreten, einer EU, die den Werten von Demokratie und Menschenrechten treu bleibt.
Serbien: Proteste als Zeichen wachsender Unterstützung für demokratische Werte
Auf die großflächigen Studierendenproteste in Serbien nach dem tödlichen Einsturz des Bahnhofsdachs in Novi Sad vor wenigen Wochen ging Tara Tepavac ein. Sie wertete die Demonstrationen als Zeichen für die wachsende Unterstützung demokratischer Werte und Institutionen im Land. Sie würden nicht von politischen Parteien, sondern von der Zivilgesellschaft angeführt – mit Forderungen nach Reformen, Korruptionsbekämpfung und institutioneller Verantwortung. Trotz globaler demokratischer Rückschritte sieht sie in dieser Mobilisierung junger Menschen eine Quelle des Optimismus. Was den umstrittenen Lithiumabbau betrifft, so werde dieser von den Bürger:innen nicht ganz grundsätzlich abgelehnt. Vielmehr protestierten sie dagegen, dass eine autokratische Regierung derart weitreichende Entscheidungen ohne öffentliche Mitsprache treffe.
Klientelismus und Nationalismus als Gefahren für die Demokratie
Auch wenn es Fortschritte in der EU-Annäherung der Westbalkanstaaten gebe, sind laut Filip Milačić die demokratischen Defizite und Ineffizienzen immer noch enorm. Als Beispiel nannte er das „Ministerium für Öl und Gas“ in Montenegro, das völlig unnötig sei und nur wegen des vorherrschenden Klientelismus bestehe. Ohne EU-Druck seien Reformen in diesem Bereich unwahrscheinlich. Als weitere Gefahr für die Demokratie machte Milačić den Nationalismus aus, der nicht nur am Westbalkan, sondern auch in der EU mit Bedrohungsszenarien punkte. Als Gegenrezept brauche es positive Narrative, die die Emotionen der Bürger:innen ansprechen.
Nur langsamer wirtschaftlicher Aufholprozess
Branimir Jovanović kritisierte den wirtschaftlichen Stillstand und die fortwährende Armut in den Westbalkanstaaten. Trotz leichter wirtschaftlicher Fortschritte wie eines geringen Anstiegs des Pro-Kopf-Einkommens würde es unter den aktuellen Bedingungen Jahrzehnte dauern, bis die Region den EU-Durchschnitt erreiche. In diesem Zusammenhang warf Jovanović der EU vor, ein neokoloniales Verhältnis zu den Westbalkanstaaten zu pflegen, da sie vergleichsweise geringe Unterstützungsgelder bereithalte, während europäische Unternehmen erhebliche Gewinne aus Investitionen in der Region erzielen würden. Zugleich würden die Verantwortlichen in den Westbalkanstaaten absichtlich die Armut aufrechterhalten, um die Wählerschaft durch Bestechung und Klientelismus kontrollieren zu können.
Initiative Young Generations for the New Balkans 2030
Die Veranstaltung wurde vom Karl-Renner-Institut, dem International Institute for Peace (IIP), dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) sowie dem Balkan Forum organisiert. Sie bildete den Schluss- und Höhepunkt einer Tagung, die am Vormittag am Karl-Renner-Institut mit Expert:innen-Workshops begonnen hatte. Zugleich war die Diskussion eine weitere Etappe der Initiative „Young Generations for the New Balkans 20230: Towards Alternative Horizons“, die 2018 gegründet worden war.
Welcome
Hannes Swoboda
MEP ret. and President of the IIP
Gazmend Berlajolli
Executive Director of the Balkan Forum
Gerhard Marchl
Head of Department of European Politics at the Karl-Renner-Institut
Panel
Branimir Jovanović
Economist at the Vienna Institute for International Economic Studies
Filip Milačić
Senior Researcher for Democracy and Society, Friedrich Ebert Foundation, Vienna
Marigona Shabiu
Youth Initiative for Human Rights, Prishtina
Thomas Stölzl
Ministry of European and International Affairs, Vienna
Tara Tepavac
Research Assistant at the Institute for Philosophy and Social Theory at the University of Belgrade (IFDT)
Moderation
Vedran Džihić
Senior Researcher, Austrian Institute for International Politics
Die Diskussion in englischer Sprache fand in Kooperation mit dem International Institute for Peace (IIP), dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) sowie dem Balkan Forum statt.