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Ein politischer Aufbruch in Großbritannien

Am 4. Juli fanden in Großbritannien die Wahlen zum Unterhaus statt. Sie endeten mit einem klaren Wahlsieg für die Labour Party unter Keir Starmer. Die seit 14 Jahren regierenden Tories wurden hart abgestraft. Der Wahlausgang wird erheblichen Einfluss darauf haben, ob und in welcher Form sich Großbritannien wieder an die EU annähern und wie sich die britische Wirtschaft entwickeln wird.

Wenige Tage vor der Wahl waren Tessa Szyszkowitz, Journalistin und Autorin, sowie Misha Glenny, Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), im Rahmen einer Lunch Lecture bei uns zu Gast, um über die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien zu sprechen.

Hohe Verluste für die Tories, satte Gewinne für Labour

Tessa Szyszkowitz sagte in ihrem Vortrag unter Verweis auf die Umfragen das Wahlergebnis im Wesentlichen richtig voraus. Sie erinnerte daran, dass Boris Johnson Ende 2019 in der Zeit des Brexits nach einem populistischen Wahlkampf 365 Mandate für die Tories errungen hatte. Szyszkowitz ging davon aus, dass die Tories den Großteil dieser Mandate bei der Wahl am 4. Juli verlieren und somit unvermeidlich auf eine Apokalypse zusteuern würden.

Was Labour betrifft, verwies die Expertin darauf, dass auch die ehemaligen traditionellen Wähler:innen von Labour wie die Arbeiter:innen Nordenglands, die für den Brexit und für Boris Johnson gestimmt hätten, zu ihrer alten politischen Heimat zurückkehren dürften. Die „Red Wall“ baue sich somit wieder auf, und London färbe sich weiter rot, so Szyszkowitz. Auch Wahlkreise und Regionen, die als konservatives „Mainland“ gelten, würden an Labour und an die Liberal Democrats gehen. Aus diesem Grund sei anzunehmen, dass auch wichtige Minister:innen ihre Parlamentssitze verlieren werden. Außerdem ist laut der in London lebenden Expertin davon auszugehen, dass Labour Mandate der Scottish National Party (zurück)gewinnen wird.

All das bedeutet laut Szyszkowitz eine durchaus paradoxe Entwicklung: Während in Europa zunehmend Rechtsradikale und Rechtspopulist:innen politische Erfolge erzielten, dürfte ausgerechnet in dem Land, welches aus der EU ausgetreten ist, eine starke linke Regierung gebildet werden. Damit bestehe die Chance, dass trotz des Erstarkens von Le Pen, AfD, FPÖ und möglicherweise Trump Großbritannien als sichere und stabile Insel gelten werde, die eine moderate Politik führt und soziale Sicherheit gewährt.

Brexit wird negativ bewertet

Wie Szyszkowitz erläuterte, ist laut Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung Großbritanniens von den negativen Konsequenzen des Brexits überzeugt und sieht im EU-Austritt einen Fehler. Der Brexit habe mehr Nachteile als Vorteile mit sich gezogen und ein Ende der politischen Stabilität bewirkt, so Szyszkowitz. Tatsächlich ist aktuell die Wirtschaftsentwicklung Großbritanniens etwa 4 % niedriger als vor dem Beitritt.

Wiederannäherung an die EU?

Dennoch halten sich laut Szyszkowitz sowohl Labour als auch die Tories bei der Frage, ob es zu einer Wiederannäherung an die EU kommen werde, weitestgehend zurück. Der Wiedereintritt in die EU sei in den beiden stärksten politischen Lagern weder Teil der politischen Agenda noch Teil des Wahlkampfes. Auch die Liberal Democrats – obwohl pro-europäisch und in der Brexit-Debatte Gegner des Austritts – sprechen nicht groß von einer Wiedereingliederung in die EU. Das Thema um den Brexit habe die britische Gesellschaft zuvor sehr stark gespalten. Dessen seien sich die Parteien bewusst und wollen sich aus diesem Grund zurückhalten.

Aus der Sicht von Misha Glenny werden die negativen Konsequenzen des Brexit immer augenscheinlicher werden. Keir Starmer werde sich innerhalb der nächsten fünf Jahre entscheiden müssen, ob Großbritannien wieder Verhandlungen mit der EU aufnimmt, um eine Rückkehr in den Binnenmarkt zu ermöglichen.

Comeback für Nigel Farage?

Nigel Farage hat sich seit den 90er Jahren mit seiner Partei UKIP – deren langjähriger Vorsitzender er war – für einen EU-Austritt stark gemacht. Aufgrund seiner Persönlichkeit, die Trump ähnlich sei, habe er nun eine Chance, ins Unterhaus gewählt zu werden, zumal viele Menschen beliebig wählten, wie Szyszkowitz meinte. Ein Einzug in das Parlament würde ihn dazu zwingen, selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht nur von außen polemisch zu kritisieren. Für Glenny würden die Tories, die die Leidtragenden eines Erfolgs von Farage wären, von ihren eigenen Waffen geschlagen. Die traditionelle Wählerschaft der Tories sei völlig gespalten.

Keir Starmer – ein anderer Politikertypus

Keir Starmer als höchstwahrscheinlich neuer Premierminister habe große Aufgaben zu bewältigen. Obwohl er von seiner Persönlichkeit her als eher ruhig, langweilig und ohne Charisma gelte, sieht Tessa Szyszkowitz darin einen Vorteil.

Während Boris Johnson die Arbeiter im Norden begeistert hat, weil er trotz seiner Erziehung und seines Aufenthalts in Eliteschulen den hemdsärmeligen Volkstribun spielen konnte, setzt Starmer einfach auf Authentizität und es funktioniert zurzeit in dieser Stimmung jetzt, wo die Leute nach acht Jahren Brexit, Chaos und Versprechungen, die nie gehalten wurden, einfach auch jemanden wollen, der nicht übertreibt, der auch sagt, was möglich ist.

Tessa Szyszkowitz

Herausforderungen für Labour

Was das Labour-Wahlprogramm betrifft, würden zwar soziale Aspekte erwähnt, doch sei nicht ganz klar, wie das bezahlt werden solle. Eine wesentliche Forderung von Labour ist das geplante Vorgehen gegen Steuervorteile für die „Non Doms“, also ausländische Bürger:innen, die es Superreichen ermöglichen, bei einem Wohnsitz in Großbritannien keine Steuern zahlen zu müssen. Damit sei das Programm von Labour wirtschaftlich als eher staatsinterventionistisch einzustufen. Auch für erschwingliche Wohnungen möchte sich Labour einsetzen. Den hohen Energiekosten stelle Labour einen Plan zur Schaffung von „Great British Energy“ entgegen, der Energieunabhängigkeit fördern, niedrigere Kosten bewirken und Arbeitsplätze schaffen soll.

Der Erfolg der zukünftigen Labour-Regierung hängt laut Szyszkowitz von der Entwicklung der Weltwirtschaft ab und von der Frage, ob die bisherige Schattenfinanzministerin Rachel Reeves mit ihrem Wirtschaftsprogramm durchkommen könne. Mitentscheidend wird auch sein, wie die Wiederannäherung an die EU aussehen und gelingen werde.

Impulsreferat

Tessa Szyszkowitz
Journalistin und Autorin, u.a. des Buchs „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“

Diskussion mit

Misha Glenny
Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)

Moderation

Gerhard Marchl
Karl-Renner-Institut, Europäische Politik