EU-Klimapolitik soll klimafreundliche Infrastrukturen für kommende Generationen ausbauen
Mit dem Green Deal hat die Europäische Union der Klimapolitik eine neue Form gegeben. Die kommende EU-Wahl wird entscheidend dafür sein, wie es damit weitergeht. Im Gespräch im Frühjahr 2024, also vor der EU-Wahl 2024, erörtern Politikwissenschafterin Alina Brad und EU-Parlamentarier Günther Sidl, woran sich Klimapolitik orientieren soll und wieviel Einfluss Lobbygruppen auf politische Entscheidungen haben. Besonders wichtig ist der Aufbau klimafreundlicher Infrastrukturen, wie etwa ein europäisches Bahnnetz und Stromversorgung im Sinne der Vielen.
Im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Dubai Ende letzten Jahres hat das UN Environment Programme einen Bericht publiziert, den sie „Broken Record“ nennen; das Titelbild ist ganz offensichtlich eine Anspielung auf Erderhitzungs-Grafiken (Anm.: siehe oben). Was löst dieses Cover bei euch aus?
Brad: Diese Grafik drückt zwei Dinge aus. Erstens, jedes Jahr haben wir neue Temperaturrekorde, jedes Jahr steigen die Emissionen noch weiter. Und zweitens, die Wissenschaft und die Klimabewegung klingen wie ein „Broken Record“, also wie eine hängengebliebene Schallplatte, weil klar ist und ständig wiederholt wird, was getan werden muss, aber entsprechende Maßnahmen nicht oder viel zu langsam umgesetzt werden. Wir wissen: Auf politischer Ebene passiert zu wenig. Es gibt viele Anstrengungen, aber die reichen bei Weitem nicht aus.
Sidl: Ich war ja vor 15 Jahren schon im EU-Parlament, 2007 und 2008, als Mitarbeiter der damaligen Abgeordneten Karin Scheele. Damals hat es schon einen Ausschuss zum Thema Klimaschutz gegeben. Das Interesse der Abgeordneten war überschaubar, Karin Scheele war das einzige Mitglied aus Österreich in diesem Ausschuss. Dann bin ich 2019 selbst als Abgeordneter in den Umweltausschuss gekommen, und ich habe das Gefühl gehabt, dass jemand dazwischen auf Pause gedrückt hat. Genau dieselben Themen, die wir damals diskutiert haben, haben wir dann wieder diskutiert. Mit denselben Positionen wohlgemerkt, das heißt, auch die politischen Fraktionen hatten im Wesentlichen noch dieselben Positionen, die Unternehmen hatten dieselben Positionen, die NGOs ebenso. Und auch die Situation vieler Staaten, die als Erstes die direkten Auswirkungen der Klimakrise spüren, hat sich in der Zwischenzeit nicht verbessert.
Brad: Bei mir kommt die Frage auf: Warum ist das so? Das liegt vor allem daran, dass ganz massiv gegen wirksame Klimapolitik mobilisiert wird. Ein Beispiel: Bei der Klimakonferenz in Dubai waren knapp 2.500 Lobbyist:innen vor Ort, das ist viermal mehr als ein Jahr davor bei der Klimakonferenz in Sharm El-Sheikh. Diese Zahlen sind schon eindrucksvoll – und beunruhigend. Das macht deutlich, wie intensiv umkämpft Klimapolitik mittlerweile ist.
Bei der Klimakonferenz in Dubai waren knapp 2.500 Lobbyist:innen vor Ort. Diese Zahlen sind schon eindrucksvoll – und beunruhigend. Das macht deutlich, wie intensiv umkämpft Klimapolitik mittlerweile ist.
2020 hat die EU-Kommission den Green Deal gestartet. War das das Ende der Pausetaste?
Sidl: Also das muss man ganz offen sagen: Was die Europäische Union hier geschafft hat, als Paket zu verabschieden, ist schon enorm. Das hätten die einzelnen Mitgliedstaaten, auch in Summe, nie geschafft. Ich war ja, bevor ich EU-Parlamentarier wurde, Landtagsabgeordneter in Niederösterreich. Da sieht man dann auch die unterschiedlichen Perspektiven. Wenn man im niederösterreichischen Landtag sitzt und Reden zuhört, glaubt man, das Universum dreht sich um den Landtagssitzungssaal in St. Pölten. Aber die wirklichen Veränderungen passieren über die nationale Ebene hinaus, und der Klimawandel ist ja etwas, wo das umso sichtbarer wird.
Brad: Klimaschutz passiert in Österreich oft nur, wenn es eine EU-Vorgabe gibt. Daher sehe ich die klimapolitische Rolle der EU als sehr wesentlich. Die EU hat auch auf internationaler Ebene eine Vorreiterrolle in der Klimapolitik. Sie sendet wichtige Signale nach innen und nach außen. Wichtig für eine wirksame Klimapolitik ist, dass nicht nur Ziele vorgegeben, sondern auch konkreten Pfade gezeichnet werden. Wenn es um Emissionsreduktionen geht, dann muss die Botschaft an die Wirtschaftssektoren deutlich sein: Es gibt ab einem bestimmten Datum keine Emissionszertifikate mehr. Bis dorthin müssen bestimmte Industrien dekarbonisieren. Und die werden auch entsprechende Anstrengungen unternehmen, weil sie wissen, es wird sie sonst viel Geld kosten. Da kann die EU schon klimapolitisch wirksam sein und einen wirklichen Unterschied machen. Deshalb finde ich, müsste man noch mehr, eine noch stärkere, noch mutigere, noch progressivere Klimapolitik auf europäischer Ebene machen.
Sidl: Klimaschutz ist ja auch eine enorme Chance für Europa. Wenn man es gut macht, dann stehen am Ende mehr Beschäftigung und mehr Lebensqualität. Aber solche großen Veränderungen machen oft auch Angst. Daher sage ich immer: Der Green Deal braucht ein starkes rotes Herz, er braucht eine extrem starke soziale Komponente. Das kann Ängste nehmen. Und es braucht die Voraussetzungen dafür, dass alle ihren Beitrag leisten können. Es kann sich nicht jeder eine Photovoltaikanlage aufs Dach bauen lassen, das können sich viele nicht leisten. Und wenn ich Mieter bin, kann ich mir gar nicht aussuchen, welche Energieform ich nutze.
In der Wissenschaft wird das diskutiert unter dem Schlagwort „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“. Alina, du hast an dem Projekt mitgearbeitet.
Brad: Genau, gemeinsam mit 80 Wissenschafter:innen in Österreich, haben wir diesen Bericht erarbeitet: „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“. Die Frage war, welche Strukturen und Infrastrukturen sind notwendig, damit klimafreundliches Verhalten und Leben ermöglicht wird. Es reicht nicht, den Menschen nur zu erklären, wie sie ihren ökologischen Fußabdruck verkleinern sollen, und anzunehmen, das allein würde schon eine relevante Veränderung in Gang setzen können. Wenn du die Rahmenbedingungen nicht hast, dann geht das ja gar nicht. Wenn du mit der S-Bahn in die Arbeit fahren möchtest, aber nicht ohne Auto zum Bahnhof kommst, , dann wirst du wahrscheinlich auf die Bahnfahrt verzichten und direkt mit dem Auto fahren. In dem Bericht untersuchen wir für ganz unterschiedliche Handlungsfelder – von Wohnen und Mobilität bis zu Freizeitaktivitäten und Urlaub – zeigen welche Möglichkeiten es gibt, die Strukturen und Rahmenbedingungen zu verändern. Wir haben uns an der Frage orientiert, welche Strukturen und Rahmenbedingungen zu Emissionsreduktionen führen und gleichzeitig auch ein gutes Leben ermöglichen.
Sidl: Diesen Zugang, diesen Fokus auf Strukturen, finde ich enorm wertvoll. Weil die Politik des erhobenen Zeigefingers, die funktioniert nicht. Die führt nur zu Aggression. Auch deswegen, weil die Menschen ja vieles gar nicht individuell beeinflussen können. Ein Beispiel: Wir bewegen quer durch Europa jedes Jahr 1,2 Milliarden Tiere in Tiertransporten. Unglaubliche Zahl. Das wird begünstigt durch ein Systemproblem in der europäischen gemeinsamen Agrarpolitik, weil hier nämlich nur anhand der Fläche gefördert wird, die ein Betrieb bewirtschaftet. Stattdessen sollten gezielt jene gefördert werden, die auf Nachhaltigkeit, Generationendenken, Ökologisierung setzen.
Die Politik des erhobenen Zeigefingers funktioniert nicht. Die führt nur zu Aggression.
Brad: Wenn wir von sozial-ökologischer Transformation sprechen, von grüner Wirtschaft, dann geht es auch darum, dass Infrastrukturen gebaut werden müssen, die jetzt noch nicht existieren. Die müssen von der öffentlichen Hand finanziert werden.
Sidl: Ich bin bis jetzt zwischen Brüssel, Straßburg und Österreich noch kein einziges Mal geflogen, sondern immer mit dem Zug gefahren, das sind bis jetzt über 160.000 Kilometer. Und ich sehe, dass das nicht funktioniert. Es gibt kein europäisches Denken im Eisenbahnwesen. Wenn man mit einer österreichischen Fahrkarte in Deutschland zum Schalter geht, weil man wegen einer Zugverspätung den Anschlusszug verpasst hat, schauen die einen an und sagen, „Das ist ein ÖBB-Ticket, damit müssen Sie zur ÖBB gehen.“ Da geht es schon auch um die Glaubwürdigkeit der Politik. Wir sagen: „Steigt in den Zug!“ Die Leute wissen: Das ist finanziell nicht attraktiv, fliegen ist oft billiger. Dann kommen noch Zugausfälle dazu, überfüllte Züge... Da braucht es eindeutig Investitionen in ein europäisches Netz. Und wir brauchen auch den öffentlichen Verkehr als Lebensadern in den Regionen. Da ist viel zu tun.
Brad: Genau. Es gibt die individuelle Ebene – wie reise ich, was esse ich, und so weiter. Und dann gibt es die strukturellen Bedingungen, die den Rahmen vorgeben, in dem ich mein individuelles Verhalten einrichten kann. Solange sich diese strukturellen Bedingungen nicht verändern und die entsprechenden Infrastrukturen nicht gebaut werden, ist es oft sehr schwierig, sich individuell klimafreundlich zu verhalten. Oder es ist nicht naheliegend und mit großem Ressourcenaufwand verbunden. Im Bereich der Mobilität zeigt sich das deutlich. Es gibt Studien dazu, was es kosten würde, europaweit das Bahnnetz auszubauen, mit Schnelltrassen, wo reisen in Hochgeschwindigkeit quer durch Europa möglich ist. Diese Zahlen liegen alle auf dem Tisch, technologisch ist es ohnehin schon möglich. Die Frage ist dann aber immer noch: Wie kann es politisch umgesetzt werden, wann wird das in konkrete Projekte gegossen?
Solange sich diese strukturellen Bedingungen nicht verändern und die entsprechenden Infrastrukturen nicht gebaut werden, ist es oft sehr schwierig, sich individuell klimafreundlich zu verhalten.
Sidl: Was jedenfalls nicht geht ist, dass man sagt: „Du musst aufs Autofahren verzichten, du musst aufs Essen verzichten, du musst auf das und das und das verzichten…“, während die Menschen immer mehr das Gefühl haben, dass die, die es sich richten können, es sich auch weiterhin richten. Und es braucht Leuchtturmprojekte, um Klimapolitik für die Menschen greifbar zu machen, und um Angst zu nehmen. Die Kommissionspräsidentin könnte zum Beispiel hergehen und sagen: „Wir wollen 2030 in Lissabon einsteigen und nach vier Stunden in Wien aussteigen.“ Da können sich die Menschen etwas vorstellen.
Warum gibt es das europäische Bahnnetz noch nicht? Das wäre ja ein sehr naheliegendes EU-Projekt.
Sidl: Weil es noch immer nationale Kompetenz ist. Für transeuropäische Netze gibt es natürlich schon Fördergelder, die auf europäischer Ebene koordiniert werden. Außerdem hat die EU zwar nicht überall Kompetenzen, aber in der Politik weiß man auch, dass trotzdem Dynamiken entstehen können. Dafür braucht es konkrete Ansagen, da muss Druck aufgebaut werden, man muss zeigen welche Vorteile das bringt, für Investitionen, für den Arbeitsmarkt, für kommende Generationen. Ich glaube, die EU Kommission hat sich nicht drüber getraut, das an sich zu ziehen und politischen Druck zu entwickeln.
Brad: Man bewegt sich ja auch immer, gerade auf europäischer Ebene, in diesem Widerspruch zwischen einerseits deregulieren, alles dem freien Markt zu überlassen, und andererseits mehr Regulierungen. Wie ist es überhaupt möglich, dass der Flugverkehr dermaßen zunehmen konnte, dass Billigfliegen erlaubt wurde, dass Kerosin nicht besteuert wird? Gerade im Mobilitätssektor zeigt sich, wie stark der Einfluss von fossilen und den nachgelagerten Industrien ist.
Es wird ja immer noch versucht, das Aus des Verbrenner-Motors zu verhindern, das die EU vorgibt.
Brad: Ja, auch hier wird weiterhin ganz massiv gegen die Regulierung vorgegangen. Wir wissen, wie stark der Einfluss von Lobbyverbänden allein schon auf der europäischen Ebene ist. Die gehen gegen jeden Entwurf vor, den die Kommission vorlegt. Die Entwürfe werden schon verwässert, bevor sie ins Europäische Parlament kommen, und in der Implementierung durch die Nationalstaaten wird dann oft weiter gebremst. Gerade deswegen muss man eben doch mutiger vorangehen. Dazu gehört auch, klare Regulierungen zu schaffen, nicht nur Anreize.
Gibt es dazu Erkenntnisse aus der Forschung – zur Wirkung von Anreiz versus Zwang in der Klimapolitik?
Brad: In einem aktuellen Forschungsprojekt schauen wir uns an, wie sich die Emissionen der Haushalte in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben, und zwar in den Bereichen Wohnen und Mobilität. Wir setzen das in Verbindung damit, welche politischen Maßnahmen in diesen Bereichen getroffen wurden. Bei den politischen Rahmenbedingungen sehen wir: Es gibt eigentlich kaum Regulierungen. Wenn, dann werden sie infolge von EU-Vorgaben formuliert. Ansonsten sind es vor allem Förderinstrumente. Und wir stellen fest, dass das aber nicht ausreicht, vor allem dann nicht, wenn man wirklich große Würfe machen will.. Da braucht es auch Regulierungen, nicht nur Förderungen.
Sidl: Zum Widerspruch zwischen Deregulierung und Regulierungen: Da geht es ja um die Frage was ich dem freien Markt überlasse, und wo die Politik steuern und eingreifen muss. Bei der Corona-Pandemie haben wir gesehen: Es sind jene Länder besser durch die Krise gekommen, die starke öffentliche Gesundheitssysteme haben. Man sieht es auch jetzt, bei den Auswirkungen auf die Energiepreise, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat: In der Krise versagt der Markt. Die Leidtragenden sind die Menschen, die plötzlich mit unglaublich hohen Preisen konfrontiert sind, und auch die Unternehmen, die reihenweise in Insolvenz gehen. Und da muss man einfach eingreifen als Politik.
In der Krise versagt der Markt. Die Leidtragenden sind die Menschen und auch die Unternehmen. Da muss man einfach eingreifen als Politik.
In welcher Form würdest du hier eingreifen?
Sidl: Wir müssen zum Beispiel ganz offen darüber reden, wem die Energieversorger gehören. Einzelnen Aktionär:innen, oder uns allen, also der Öffentlichkeit? Wenn zum Beispiel ein Energieunternehmen zu 51% in öffentlicher Hand und zu 49% in Aktienbesitz ist, dann wird dieses Unternehmen bei steigenden Preisen nicht sagen: „Wir machen eine Preissenkung.“ Weil dann kommt der Aktionär und sagt: „Wo ist meine Dividende? Ich zerre dich vor Gericht, weil deine Aufgabe ist nicht, Sozialpolitik zu betreiben, sondern meine Dividenden zu steigern.“
Brad: Du hast vorhin die Pandemie angesprochen – ich beobachte schon, dass sich in Europa durch die Erfahrungen während der Pandemie, und auch mit der Energiekrise in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, durchaus etwas verschoben hat. Vor allem gibt es jetzt Versuche eine aktivere, strategischere Industriepolitik zu betreiben. Durch Förderungen hat die EU die Möglichkeit, grüne Industrien gezielt aufzubauen, Versäumnisse in der Infrastruktur zumindest teilweise einzuholen. Und wie gesagt, mit gleichzeitigen Regulierungen kann die Politik schon sehr viel gestalten. Die Frage ist dann eben, wie gestaltet wird – und für wessen Interessen die Politik durchlässig ist.
Sidl: Es wird nicht nur die EU-Wahl, sondern es werden auch die künftigen Jahre mit Sicherheit entscheidend sein, wie es weitergeht. Der Klimawandel ist eine globale Herausforderung, das können wir nicht lösen, wenn wir nur in unseren Ländergrenzen – oder sogar Bundesländergrenzen – denken. Und auf Europäischer Ebene müssen wir, auch wenn es vielleicht Gegenwind gibt, mutig sein und sagen: Da geht es wirklich um die Zukunft. Es geht darum, dass wir klimafreundliche Infrastrukturen für kommende Generationen ausbauen, mit öffentlichen Geldern, und auch in öffentlicher Hand behalten.
Über die Personen
Alina Brad ist Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien; in ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit internationaler Klima-, und Umweltpolitikund sozial-ökologische Transformation. Sie ist außerdem eine der koordinierenden Leitautorin des zweiten Sachstandsberichts zum Klimawandel in Österreich.
Günther Sidl ist seit 2019 Abgeordneter zum Europäischen Parlament. Er ist dort Mitglied im Umweltausschuss, wo er klimapolitische Themen vor allem im Bereich von Landwirtschaft und Ernährungssicherheit vorantreibt. Zuvor war der promovierte Politikwissenschafter Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag.