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Für die Demokratie Partei ergreifen?

Warum Demokratie Parteien und parteipolitische Bildung benötigt

Politische Parteien sind die Symbole der Vertrauenskrisen und Verknöcherungen parlamentarischer, repräsentativer Demokratien. In den Augen vieler Menschen gelten sie als Organisationen, die sich in einer Art Binnenlogik verselbstständigt und nach und nach von ihren ursprünglichen Zielen und Intentionen weit entfernt haben. Und die ihren Aufgaben der Repräsentation weiter Bevölkerungsteile kaum mehr nachkommen (können), weil ihre Mitgliedschaften und Funktionär:innen aus immer enger begrenzten Gruppen der Bevölkerung rekrutiert werden. In Parteiversammlungen, Parteiführungen und Parlamenten, egal welcher Parteifamilie der westlichen Länder, sitzen heute fast nur noch Akademiker:innen. Zusammengefasst wird an Parteien kritisiert, dass diese in ihren Demokratien eben nicht mehr dafür sorgen, dass die verschiedenen Interessen sozialer Gruppen gehört, zusammengeführt und ausgeglichen werden. Sondern dass, im Gegenteil, dieses zentrale Prinzip der liberalen Demokratie durch Parteien nachgerade verhindert und verwässert wird. 

Kann man also schlussfolgern, dass unsere liberalen repräsentativen Demokratien ohne Parteien besser dran wären? Dass wir uns demokratischer selbst verwalten, wenn wir diese Horte von Patronage, Elitismus und Klubzwang loswerden?

Für eine Antwort lohnt ein Blick darauf, welche Aufgaben und Rollen Parteien und ihre Organisationen in unseren Demokratien eigentlich zukommen und welchen Wert man ihnen in der Betrachtung repräsentativer Demokratien zugeschrieben hat. Denn obwohl die Kritik an der Bürokratisierung von Großorganisationen wie Parteien schon sehr alt ist – der Soziologe Robert Michels etwa veröffentlichte seine berühmte Abrechnung mit der deutschen Sozialdemokratie bereits vor dem Ersten Weltkrieg –, haben Parteien in unseren demokratischen Systemen zentrale Funktionen inne.

Erstens beruhen repräsentative Demokratien auf der Fähigkeit der Gesellschaft, Repräsentation zu organisieren. Dies bedeutet zunächst, dass soziale Gruppen sich ihrer Gemeinsamkeit bewusst werden und gemeinsam dafür sorgen, dass ihre Interessen artikuliert und verfolgt werden. Menschen, die sich als ähnlich und zusammengehörend empfinden, suchen sich dann Fürsprecher:innen und Repräsentant:innen, die ihre Anliegen in der Politik vertreten. 

Gerade für diejenigen innerhalb unserer Gesellschaften, die nicht als Individuen über genug Zeit, Geld, Netzwerke und Ressourcen und somit Beeinflussungsmacht verfügen, um als Einzelpersonen ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, bilden organisatorische Zusammenschlüsse wie Parteien dabei eine immens wichtige Vertretung. Denn nur mittels eines Zusammenschlusses der „Vielen“ ist es dann möglich, gegen ressourcenstarke Einzelinteressen zu bestehen, im Rahmen einer Demokratie Gleichgesinnte zu finden und bei Wahlen um Unterstützung zu ersuchen. Auf diese Weise also strukturieren Parteien den demokratischen Prozess, in dem sie als repräsentative Vertretungen der Interessen ihrer Wähler:innen und Anhänger:innen mit den Vertretungen anderer im Parlament und im Gesetzgebungsprozess die demokratische Selbstregulierung der Gesellschaft aushandeln. Zudem sind sie das organisatorische Fundament der demokratischen Gleichheit aller Bürger:innen.

Zweitens möchten Parteien, das unterscheidet sie zumeist von anderen Organisationen wie sozialen Bewegungen oder Lobbygruppen, möglichst viele Menschen aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten zur Unterstützung durch Mitgliedschaft oder Wahlstimme bewegen. Da unsere Gesellschaften über die letzten zwei Jahrhunderte immer heterogener geworden sind und soziale Milieus immer weniger prägend, reicht die Unterstützung einer oder weniger sozialer Gruppen für Wahlerfolge und Machtübernahmen in einer parlamentarischen Demokratie nicht mehr aus. 

Die Arbeiter:innenschaft allein etwa, diese Erfahrungen hat die Sozialdemokratie bereits in den 1920er Jahren machen müssen, ist für einen elektoralen Erfolg schlichtweg nie groß genug gewesen. In der Folge müssen Parteien mindestens mehreren sozialen Gruppen ein programmatisches oder personelles Angebot machen und können es sich kaum leisten, sich auf einen einzigen oder wenige programmatische Kernpunkte zu beschränken. Zudem: Die Arbeit des Parlaments umfasst die Diskussion und Beschlussfassung der Gesetzgebung zu allen Themen – Parteien müssen also, dies ist für ihre Funktion innerhalb von Demokratien kaum zu überschätzen, möglichst viele Menschen ansprechen und möglichst viele, wenn nicht alle Politikbereiche abdecken. In liberalen, repräsentativen Demokratien vertreten und verteidigen Parteien ein von ihnen entworfenes Allgemeinwohl. Anders als soziale Bewegungen, die ein bestimmtes Anliegen starkmachen, müssen Parteien ein politisches Angebot entwerfen, mit dem sie gesamtgesellschaftlich argumentieren und in dem sie ein möglichst umfassendes Gesellschaftsbild entwerfen. Dies ist für parlamentarische Demokratien unglaublich wichtig, denn dadurch kann ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess ermöglicht werden. Wenn Parteien jeweils mehrere politische Ziele verfolgen (und nicht nur eins), können sie viel leichter untereinander verhandeln: die Realisierung meines Ziels A für die deines Ziels B. Hätten alle nur jeweils ein Kernanliegen, gäbe es kaum Raum für Kompromisse.

Eine dritte Kernaufgabe politischer Parteien ist die Rekrutierung und Ausbildung von Politiker:innen, die bei Wahlen antreten und in Parlamenten tätig sind. Durch das Engagement in Parteien werden Menschen an die Institutionen der Demokratie herangeführt und lernen deren Funktionsweisen kennen. Wer in einer Partei Mitglied ist oder mitarbeitet, lernt Wahlverfahren und Auswahlmechanismen kennen und wächst hinein in die Praxis politischer Aushandlungsprozesse. 

Demokratische Partizipation und demokratisches Mitmachen sind deswegen auch als schools of democracy bezeichnet worden, da die konkrete Erfahrung demokratischer Teilhabe auch dazu führt, dass Bürger:innen den Institutionen der Demokratie gegenüber offener und positiver eingestellt sind. 

Demokratien reproduzieren sich also selbst – zwar nicht ausschließlich, aber in großen Teilen mit und durch politische Parteien.

Und auch hier gilt das Argument des Kollektivs: Durch die Organisation von Wahlen können politische Parteien verhindern oder zumindest abmildern, dass es von persönlichen Ressourcen abhängt, wie wahrscheinlich Menschen aktiv (als Wähler:in) und passiv (als Kandidat:in) partizipieren. Und dass repräsentative Demokratien nicht zu einer Auswahl der finanz- und ressourcenstärksten Einzelinteressen verkommen.

An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Parteien und politische Bildungsarbeit eng zusammengehören. Das berühmte Diktum des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der „freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“, unterstreicht, wie sehr eine Demokratie davon abhängt, dass Bürger:innen die getroffenen Entscheidungen als legitim erachten. Parteiendemokratie und Bildungsarbeit greifen diesen Gedanken auf und füllen die Vorzimmer der parlamentarischen Institutionen mit demokratischem Leben. 

Nur wenn Menschen stets aufs Neue die konkrete Praxis gelebter Demokratie selbst erfahren, wenn sie mitmachen und verschiedene Rollen und Aufgaben des politischen Prozesses kennenlernen, wachsen sie zu demokratischen Bürger:innen heran. Und  weil Parteien als langfristig orientierte Organisationen die Aufgabe haben, über den Tag und auch über die nächste Wahl hinauszudenken, sind sie besonders interessiert daran, langfristig demokratische und aktive Bürger:innen zu Mitgliedern und Sympathisanten zu machen.

Aus dieser Perspektive also sind Parteien und die von ihnen geleistete politische Bildungsarbeit ein überaus gewichtiger Beitrag dazu, eben jene Voraussetzungen der Demokratie immer wieder neu zu schaffen, auf welche ihre Institutionen zwangsläufig angewiesen sind. 

Parteien übernehmen also neben der Organisation parlamentarischer Macht und Regierungsmehrheiten grob gefasst drei zentrale Funktionen in unseren repräsentativen Demokratien: Erstens, sie sorgen dafür, dass eine politische Aushandlung von Interessen möglichst viele Menschen umfasst und eine parlamentarische Kompromisskultur entstehen kann; zweitens, sie befördern eine Diskussion über langfristig orientierte Gesellschaftsformen und -bilder und sorgen dafür, dass nicht lediglich kurzfristige Einzelinteressen im Fokus stehen; drittens, sie rekrutieren das Personal der Demokratie und bilden Bürger:innen zu Demokrat:innen aus und schaffen so erst die Voraussetzungen für liberale, repräsentative Demokratien westlicher Prägung.

Allerdings bleiben politische Parteien heutzutage hinter diesen Erwartungen zum Teil weit zurück. Die Aufgabe der Repräsentation weiter Bevölkerungsteile ist zwar durch die zunehmende Inklusion von Frauen und Minderheiten aller Art in Parlamenten und Führungsebenen der Organisationen verbessert worden. Gerade aber die Repräsentation sozial und materiell ressourcenschwächerer Gruppen unserer Gesellschaften wird von politischen Parteien seit den 1980er Jahren immer weniger geleistet.

Menschen aus einkommensschwächeren Schichten werden kaum mehr von Parteien als Mitglieder angesprochen, kaum mehr als Kandidat:innen aufgestellt, finden kaum mehr den Weg in die Parlamente. Ihre Interessen werden immer weniger in demokratischen Entscheidungen reflektiert und in der Folge gehen immer weniger Menschen dieser Gruppen zur Wahl und wenden sich Stück für Stück von der Demokratie ab. Eine Art demokratischer Teufelskreis. Auch die anderen genannten Funktionen werden – je nach Partei – oftmals nur sehr oberflächlich erfüllt; die allgegenwärtige Kritik und der Vertrauensverlust unterstreichen dies. Parteien gelten als Organisationen von Opportunisten, denen nichts wichtiger sei als der persönliche und kurzfristige Machterhalt.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass wir auf Parteien als Organisationsform verzichten könnten. Sie leisten, zumindest der Idee nach, zu wichtige Aufgaben. Was allerdings nötig wäre, ist, die Parteien an diese Funktionen immer wieder zu erinnern und organisatorische wie programmatische Reformen anzumahnen. 

Die Frage, wie mehr Nicht-Akademiker:innen in Parteien und Parlamente geholt werden können; wie Parteien (wieder) mehr langfristige Zukunftsperspektiven und Allgemeinwohlperspektiven diskutieren können; wie sie mehr Menschen die konkrete Erfahrung demokratischer Prozesse ermöglichen können. All dies sind Fragen, mit denen eine demokratische Gesellschaft politischen Parteien einen Spiegel vorhalten kann. Denn für die langfristige Stabilität demokratischer Gesellschaften brauchen wir eine Form politischer Parteienorganisation. Diese können in ihrer Verfasstheit durchaus unterschiedlich sein und sich auch organisatorisch wandeln. Aber wir sollten auch die Parteien selbst immer wieder an diese Funktionen erinnern und diese einfordern.

Weiterführende Lektüre

Michael Koß, Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen (München 2021)

Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. (München 2018) 

Armin Schäfer/Michael Zürn, Die demokratische Regres-sion. Die politischen Ursachen des autoritären Populis-mus (Berlin 2021)

Felix Butzlaff 

ist Assistant Professor am Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit der Wirtschaftsuniversität Wien, sowie Teil des wissenschaftlichen Netzwerks des Karl-Renner-Instituts.