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Karl Renner

Republikanisches Fundament zwischen Glanz, Patina & Schatten

Ein Namensgeber als typisch österreichische Gestalt

Anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums der Zweiten Republik erhob „Der Standard“ die Bekanntheit von Persönlichkeiten, „die 1945 die Republik wieder aufgebaut haben“. Das eindeutige Ergebnis zeigte, dass 93 Prozent der Befragten sich noch an Karl Renner erinnerten und er somit – doch mit 6 Prozent Abstand – an erster Stelle vor Leopold Figl lag.1 Und wen wundert es? Kaum eine andere österreichische Politiker:innengestalt hat diese Republik in ihrer komplizierten Geschichte im 20. Jahrhundert geprägt wie er. Kaum ein anderer ist bis heute derart beliebtes Objekt für geschichtsträchtige Feierstunden und für geschichtspolitische Auseinandersetzungen wie der zweimalige Staatskanzler und spätere Bundespräsident.

Karl Renner vereint in seinem langen Politikerleben alle noch so widersprüchlichen österreichischen Geschichtsstränge. Er repräsentiert Österreichs Brüche, Tragödien, Glanz- und genauso dessen Fehlleistungen.

So war er in kurzer Abfolge gescheiterter austromarxistischer Reformator des habsburgischen Vielvölkerstaates und strategischer Kopf und die ordnende Hand der Republikgründung 1918/19. Als führender Parlamentarier verstrickte er sich ins fatale politische Handgemenge der Ersten Republik und endete nach deren gewaltsamen Beseitigung 1934 als politischer Gefangener des Austrofaschismus. Und nicht zuletzt war er mit seinem Anschluss-Ja an Hitler-Deutschland 1938 sowohl Repräsentant des belasteten Verhältnisses Österreichs zu sich selbst, als auch der „Vater des Vaterlandes“2 bei der Wiedererrichtung der Republik 1945. So scheint es geschichtspolitisch mehr als nachvollziehbar, dass Bruno Kreisky, der sich öffentlich in seiner Rolle als Bundeskanzler als „Schüler und Jünger des großen Staatsmannes Dr. Karl Renner“3 bezeichnete, im Vorfeld der Gründung der politischen Akademie der SPÖ auf deren Benennung als Dr.-Karl-Renner-Institut beharrte. Diese Entscheidung wurde durchaus kontroversiell diskutiert, so hätte etwa die SPÖ Wien gerne ein Otto-Bauer-Institut gehabt.4 

Fundament der demokratischen Republik

Als Produkt des Ersten Weltkriegs war Österreich die Staat gewordene Ambivalenz. Kriegstrauma, Hunderttausende Tote und Invalide, eine fatale volkswirtschaftliche Lage, undefinierte Staatsgrenzen und das Gefühl, ein „Zwergstaat“ und eine „Zwergenwirtschaft“ geworden zu sein, prägten eine weitverbreitete Grundstimmung des Übrigbleibens. Erfüllt mit Phantomschmerzen der „Schrumpfung“ in Größe und Bedeutung standen sich große Ideen des Fortschritts und der Reaktion unter einem für viele zu kleinen und nun „fremden“ Gemeinwesen gegenüber. Vertreten durch Repräsentant:innen, die kaum in der Lage waren, eine gemeinsame politische Kultur zu entwickeln. Große Widersprüche bildeten sich an den Grenzen der beiden großen politischen Lager ab. Arbeit versus Besitz, Stadt versus Land, Landwirtschaft versus Industrie und vehement vertretener Laizismus versus partei-politischem Katholizismus.

Einer, der diese Ambivalenzen auszuhalten, zu lösen oder zu „vereinen“ versuchte, war Karl Renner. Aus dem habsburgischen Zusammenbruch heraus, versuchte er friedlich und gewaltfrei die Republik zu organisieren. Um dies zu erreichen, prägte er das doch etwas eigentümliche Bild von der demokratischen Republik als großen Kompromiss zwischen Bürgertum, Arbeiterschaft und Bauernstand.

Bis heute ist diese Symbolik in das Staatswappen der Republik eingeschrieben. Im Geiste der Logik dieses Kompromisses und seiner Idee vom demokratischen Hineinwachsen in den Sozialismus entwickelte Renner die Vorstellung einer Politik des kontinuierlichen Ausverhandelns und Ausgleichs. Diese institutionalisierte politische Praxis sollte gerade durch interessen- und gesichtswahrendes Entgegenkommen Zug um Zug eine demokratische Kultur schaffen, die Stabilität und eine Dynamik der kontinuierlichen Weiterentwicklung hin zu einem grundsätzlichen Umbau von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zulässt. Im Jahr 1920 beschrieb er dieses frühe Bild einer österreichischen „Sozialpartnerschaft“ folgendermaßen:

Nicht die Diktatur der einen Klasse über die andere, sondern die verhältnismäßige An-teilnahme aller werktätigen Klassen an der Macht, somit nicht Alleinherrschaft, sondern Mitregierung. [5]

Dieses Konzept scheiterte in Österreich in der Zwischenkriegszeit unter anderem am Fehlen einer kollektiven Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft, an Mentalreservationen politischer sowie wirtschaftlicher Eliten gegen die demokratisch-republikanische Grundordnung und an der Fragmentierung der Lebenswelten bzw. Milieus. Dieser ständige Versuch Renners, Konflikte kurzfristig Kompromissen zuzuführen und sie im Endeffekt mittelfristig zu verrechtlichen, damit sie dann institutionalisiert überwindbar sind, prägte sein politisches Leben. All das wurde von seiner Grundannahme getragen, dass selbst der Klassenkampf nur in einem gemeinsamen Rahmen, einem „höheren Ganzen“, geführt werden kann, denn:

Geht dieses dabei in Trümmer, so ist aller Klassenkampf um seine möglichen Früchte betrogen. [6]

Für dieses Erhalten bzw. Schaffen des Gemeinsamen ging er zeitlebens weit: 1918/19, um die Republik zu gründen; im Februar 1934, um den bewaffneten Konflikt zu verhindern; im Austrofaschismus, um irgendeinen legalen Rahmen für die Agitation der Arbeiter:innenbewegung und das gemeinsame österreichische Auftreten gegen Nazi-Deutschland zu erreichen; 1938, um verhängnisvoll und irritierend dann doch im „Anschluss“ die unvollendete „gesamtdeutsche“ Staatswerdung von 1918/19 nachzuholen; und schließlich im April 1945, um die ungeteilte Wiedererrichtung der demokratischen Republik zu schaffen. Mit dieser politischen Praxis, die große Visionen und die normative Kraft des Faktischen amalgamierte, um das vermeintliche Maximum bzw. Bestmögliche für das Gemeinwesen herauszuholen, verdankt ihm bis heute die demokratische Republik maßgeblich ihre Existenz (1918) und ihre Erneuerung (1945) mit ihren Stärken, Widersprüchen und ihrer historischen Sendung sowie Verantwortung.

Ein Volksbildner – Demokratie muss erlernt werden

Eine Institution der politischen Bildung und der demokratischen Kulturpflege nach Karl Renner zu benennen, war für Bruno Kreisky natürlich naheliegend, da Renner wie kaum ein anderer österreichischer Politiker bei all seinen politischen Plänen und Projekten immer die Bildungsfrage mitbedacht hatte. Bereits sein Einstieg in die Sozialdemokratie erfolgte über die Arbeiter:innenbildung. In den Hinterzimmern von Wirtshäusern und in Arbeiterkellern vermittelte er dem Proletariat marxistische Schriften und Volksökonomie. Als Staatskanzler war er der Überzeugung, dass die junge Demokratie und Republik eine funktionierende Zeitungslandschaft genauso braucht, wie gut ausgebildete Journalist:innen.

Dafür schrieb er ein Memorandum, in dem er „Hochschulkurse für Pressewesen“ forderte. Kurse für „Journalistenanwärter“ und das breite Publikum sollten zum einen das allgemeine Wissen u. a. über Recht, Geschichte, Volkswirtschaft, Kunst und Literatur vergrößern und zum anderen das Bewusstsein über die Funktionsweisen der demokratischen Öffentlichkeit stärken.

Ebenso sollte der immens schlechte Ruf des Journalist:innenenberufs durch erhöhte Qualität verbessert werden. All das scheiterte, vor allem an der im Journalismus und an den Universitäten vorherrschenden Ideologie einer angeborenen „Begabung“ für den Beruf  des „Tagesschriftstellers“ sowie die Furcht der etablierten Schreiber:innen, von jüngeren und besser ausgebildeten Kolleg:innen verdrängt zu werden.

Der Genossenschafter Karl Renner hingegen etablierte 1927 erfolgreich eine „Geschäftsführerschule“. Damit sollten einfache Arbeiter:innen im Rahmen ihres genossenschaftlichen Wirkens die Chance bekommen, sich betriebs- und volkswirtschaftlich auszubilden, um sich in der klassenkämpferischen Auseinandersetzung vom Elitenwissen in Fragen der Ökonomie emanzipieren zu können. Wer die Wirtschaft beeinflussen und verändern will, muss sie verstehen und das notwendige Handwerkszeug beherrschen, lautete sein Credo. Später, als Bundespräsident der Zweiten Republik, sollte Renners wirtschaftskundliches Bildungsengagement einen symbolischen Höhepunkt finden. Zu seinem 80. Geburtstag eröffnete er das Bildungsheim des Konsumverbandes namens „Hohe Warte“ zur Weiterbildung von Mitarbeiter:innen und Führungskräften.

Im Rahmen der sozialdemokratischen Bewegung sind seine bildungspolitischen Höhepunkte die 1903 durch ihn mitbegründete erste Wiener Arbeiterschule namens „Zukunft“ und die 1925 als eine Art Gegenuniversität ins Leben gerufene „Arbeiterhochschule“, an der Helene und Otto Bauer, Max Adler, Friedrich Adler, Otto Neurath und eben auch Karl Renner unterrichteten. Alle Vortragenden wollten für die anbrechende neue Zeit des Sozialismus, Wissenschaft und Arbeiter:innenschaft vereinen. 

Bereits in der Monarchie liebte er es auch, an den verschiedenen „Parteischulen“ in den Bundesländern zu unterrichten und dem politischen Nachwuchs Orientierung zu geben. Auf dem wissenschaftlichen Feld gilt er ebenso, neben Rudolf Goldscheid, Max Adler, Carl Grünberg, Wilhelm Jerusalem, Ludo Moritz Hartmann und Josef Redlich, als Mitbegründer der „Soziologischen Gesellschaft in Wien“. 

Diese wurde 1907 ins Leben gerufen. Diese Liste von erfolgreichen und gescheiterten Bildungsplänen und -hoffnungen ließe sich fortführen. So ist es nur schlüssig, dass der spätere erste Direktor des Karl-Renner-Instituts, der Historiker Karl R. Stadler, in einer 1970 herausgegebenen umfassenden Renner-Bibliografie im Vorwort schrieb, dass für den einfachen Bauernsohn aus Südmähren zeitlebens „das ganzen Reich – und später die Republik – ein einziges Klassenzimmer war.“7 Vielleicht klingt das altmodisch. Jedoch verweist die Patina dieses volksbildnerischen Anspruchs bis heute auf die untrennbare Verbindung von funktionierender Demokratie und breit angelegter politischer Bildung.

Die großen Leistungen würdigen, die Schatten ausleuchten

Eine Beschäftigung mit Karl Renner, dieser zentralen österreichischen politischen Gestalt, wird weiterhin, jenseits von Verdammung und Hagiografie, notwendig sein, will man sich nicht eines zentralen Schlüssels zum Verständnis der Geschichte dieses Landes berauben. Auch wir im Karl-Renner-Institut unterziehen Glanz, Patina und Schatten dieses Mannes immer wieder einer wissenschaftlich-kritischen Betrachtung. An den geschichts-politischen Debatten nehmen wir teil und stellen uns ihnen. Über ihn – und andere relevante Persönlichkeiten der Republikgeschichte – wird weiterhin partei- und geschichtspolitisch gestritten werden, wie es einer demokratisch-republikanischen Gedenkkultur gut ansteht.

Karl Renners politisches Leben zeigt uns bis heute ungebrochen, wie hart das Errichten bzw. Erhalten einer demokratischen Gesellschaft ist und wie schwer Stabilität und Frieden zu erlangen sind. Die Wege dorthin sind uneben, verschlungen und können im Nachhinein oft mit historischer Verantwortung belastet sein. Auf jeden Fall können sie nicht im luftleeren Raum historischer Analogien und moralisierender Selbstgewissheiten beschritten werden.

Der kommunistische österreichische Intellektuelle Ernst Fischer, ein langjähriger Kritiker Renners, beschrieb ihn zu seinem 75. Geburtstag 1945 als einen Mann, der „selten nur am Ufer des Stromes als nachdenklicher Beobachter [stand], meist war er mitten im reißenden Gewässer, ein tätiger, vor Gefahr und Verantwortung nicht zurückschreckender Fähr- und Steuermann“.8 In all seiner Beweglichkeit und Elastizität sei er „weit mehr aus einem Guß“ gewesen, als viele seiner Kritiker, die in „ihrem Doktrinarismus nur zwiespältiger und weniger konsequent“ waren als er. Hier wird ein Bild eines politischen Menschen in Führungsverantwortung gezeichnet, dass uns in weltpolitisch schwieriger werdender Gegenwart vielleicht mehr zu sagen hat, als uns lieb ist. Alles in allem bleibt Karl Renner eine epocheprägende politische Ausnahmeerscheinung mit ihren tiefen Widersprüchen und zeitgebundenen Irrwegen, mit hohen Tugenden, großen Visionen und hellsichtig-realitätstauglichen Strategien.

1 Der Standard, 25./26.4.2015, 4.

2 Arbeiterzeitung, 6.1.1951, 1. Ebenso: http://mediawien-film.at/film/455/

3 Präsidium der Sozialistischen Partei Österreichs (Hg.), Bruno Kreisky. Reden, Band 2 (Wien 1981) 789. 

4 Vgl. Ulrich Brunner, Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter. Bruno Kreisky – Episoden einer Ära (Wien 2020) 76 ff.

5 Stenographisches Protokoll der 74. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich.     Mittwoch, den 21.4.1920, 3

6 Die Gesellschaft – Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 7, Berlin 1930/1, 139 f.

7 Zit. nach: Karl R. Stadler, Karl Renner ein Mann und sein Werk. In: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (Hg.): Karl Renner – Eine Bibliographie (Wien/Graz/Frankfurt/Zürich 1970) 23.

8 Ernst Fischer, Karl Renner. Eine Gestalt der österreichischen Geschichte. In: Neues Österreich, 14.12.1945, 3.

Michael Rosecker ist stv. Direktor des Karl-Renner-Instituts und wissenschaftlicher Leiter des Karl-Renner-Museums in Gloggnitz

Michael Rosecker

Mag. Dr. Michael Rosecker

Stv. Direktor, Bereichsleitung Politische Aus- und Weiterbildung und Grundlagenarbeit