Kurt-Rothschild-Preis 2024: Recht auf Arbeit
1929, Marienthal: Die Textilfabrik muss schließen und mit einem Schlag verlieren 1.300 Menschen ihre Beschäftigung – fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung von Marienthal, einem Ortsteil von Gramatneusiedl (NÖ). Ein 17-köpfiges Forscher:innenteam untersucht vor Ort die Folgen von Massenarbeitslosigkeit. Das Ergebnis ist nicht nur die politisch hochrelevante Einsicht „Arbeitslosigkeit führt zur Resignation, nicht zur Revolution“ (Marie Jahoda, 1981); die Untersuchung ist bis heute ein Lehrbeispiel der Sozialforschung. Die Anregung für die Studie kam von einem Politiker: Otto Bauer, führender Theoretiker und stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Er ahnte, wie zersetzend Arbeitslosigkeit für individuelle Lebensentwürfe und für Gemeinschaften ist, und fand es wichtig, dieses Phänomen wissenschaftlich zu untersuchen. Das Forscher:innenteam wiederum war nicht nur getrieben vom Interesse des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, sondern auch vom Ideal, durch ihre Forschung vor Ort zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ ist also nicht nur aufgrund ihrer methodischen Pionierarbeit und der inhaltlichen Erkenntnisse bahnbrechend, sondern sie zeigt auch, wie sich Wissenschaft und Politik gegenseitig informieren und anregen können.
Auch der Kurt-Rothschild-Preis ist getragen von der Idee eines Austauschs zwischen Wissenschaft und Politik: Eines Austausch darüber, welche brisanten Entwicklungen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft wissenschaftliche Aufmerksamkeit brauchen, und welche politischen Ableitungen sich aus diesen Analysen ergeben. Seit 2016 vergeben das Karl-Renner-Institut und der SPÖ-Parlamentsklub diesen Preis an Wissenschafter:innen, die nicht nur exzellente Forschung zu relevanten Themen betreiben, sondern ihre Erkenntnisse auch in die öffentliche Debatte einbringen.
2020, Gramatneusiedl: Das AMS Niederösterreich startet ein weltweit einzigartiges Modellprojekt einer Jobgarantie, bei dem jeder langzeitarbeitslosen Person ein Arbeitsplatz angeboten wird – kollektivvertraglich abgesichert und mit sinnstiftender Tätigkeit. Die Oxford-Ökonomen Maximilian Kasy und Lukas Lehner begleiten das Projekt wissenschaftlich, um die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere auf den Arbeitsmarkt, zu analysieren. Vier Jahre später bekommen sie dafür den Hauptpreis des Kurt-Rothschild-Preises 2024.
Maximilian Kasy und Lukas Lehner: Mit der Jobgarantie zum Recht auf Arbeit – Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt Marienthal
In ihrer Preisrede strichen die beiden Ökonomen die Bedeutung des sorgfältig ausgearbeiteten Studiendesigns hervor, das ihren Erkenntnissen noch mehr Aussagekraft verleiht: Die Jobgarantie stärkte die Teilnehmer:innen ökonomisch, weil sie ein höheres Einkommen und Planungssicherheit hatten, und sie erhöhte ihre psychische Stabilität und ihren sozialen Status. Dadurch dass im Rahmen des Jobgarantie-Projekts auf Gemeindeebene zusätzliche Jobs für die Teilnehmer:innen geschaffen wurden, kam es nicht zu einem Verdrängungseffekt der regulären Erwerbstätigen im Arbeitsmarkt. Auch die Kurzzeitarbeitslosigkeit (= unter 12 Monate) stieg nicht an. Langzeitarbeitslosigkeit wurde durch die Jobgarantie in Gramatneusiedl faktisch abgeschafft. Und die Kosten sind nicht höher als jene, die zur Finanzierung der Langzeitarbeitslosigkeit anfallen.
Die schwarz-blaue niederösterreichische Landesregierung stellte das Jobgarantie-Projekt des AMS NÖ im Frühling 2024 ein. International schlägt das Projekt allerdings hohe Wellen, das Interesse von Medien und Politik ist enorm. Kasy und Lehner empfehlen, die Jobgarantie schrittweise auf ganz Österreich auszurollen, und präsentierten in ihrer Preisrede konkrete Vorschläge dafür.
Barbara Teiber und Sven Hergovich: Kombination aus wissenschaftlicher Exzellenz und gesellschaftlichem Wirken
Barbara Teiber, SPÖ-Nationalratsabgeordnete und Vorsitzende der Gewerkschaft GPA, hielt die Laudatio auf die Hauptpreisträger und betonte: „Wir verstehen die Erfahrungen aus dem Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal, die Max Kasy und Lukas Lehner so eindrucksvoll erfasst, berechnet und aufbereitet haben, als Auftrag. Als Auftrag, niemanden zurückzulassen. Als Auftrag, mutig neue Wege in der Arbeitsmarktpolitik zu beschreiten. Als Auftrag, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass für alle ein sinnerfülltes Leben und Arbeiten in Würde möglich wird.“
Der SPÖ-Niederösterreich Vorsitzende und Kontroll-Landesrat Sven Hergovich, der 2020 als Landesgeschäftsführer des AMS NÖ das Jobgarantie-Projekt initiierte, gratulierte den Preisträgern in einer Grußbotschaft.
Simon Güntner, Juma Hauser, Judith M. Lehner, Christoph Reinprecht: Neues Soziales Wohnen
Was bedeutet eigentlich „sozial“, wenn wir von sozialem Wohnbau sprechen? Dieser Frage ist ein Forscher:innenteam nachgegangen und hat dafür Fallstudien rund um die Welt analysiert – vom Wiener Wohnbaumodell über die Housing Crisis in Los Angeles bis zu Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz und in Uruguay. All diese Beispiele haben eines gemeinsam: Sozialer Wohnbau ist die in Beton gegossene Idee, dass Wohnraum nicht in erster Linie eine Handelsware ist, sondern ein Allgemeingut.
Wohnraum als Allgemeingut: Gerade in Zeiten von explodierenden Mieten und Immobilienpreisen gewinnt diese Idee nicht nur an Attraktivität, sondern auch an realer Bedeutung für unser Zusammenleben. Eine öffentliche Diskussion darüber wird immer dringender. Für das nötige wissenschaftliche Unterfutter hat das Forscher:innenteam wissenschaftliche Netzwerke ins Leben gerufen, z.B. eine jährliche Summer School und das interdisziplinäre Forschungszentrum „Research Center for New Social Housing“ an der TU Wien.
Jana Costas: Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde
Ein halbes Jahr lang hat die BWL-Professorin Jana Costas (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) bei einer Reinigungsfirma am Potsdamer Platz in Berlin mitgearbeitet, um Einblick in die Arbeitsbedingungen und das Selbstverständnis von Reinigungskräften zu bekommen. Mit ihrer ethnografischen Studie nimmt sie jene Personen in den Fokus, ohne deren Arbeit der private und berufliche Alltag der meisten Menschen nicht funktionieren würde, die aber oft prekär beschäftigt sind, stigmatisiert und unsichtbar gemacht werden.
Die Untersuchung von Jana Costas zeigt, wie Ungleichheit in alltäglichen Begegnungen, im Arbeitsalltag, hergestellt und erlebt wird. Soziale Ungleichheit ist durchaus eine Frage des Geldes. Aber nicht nur: Höhere Löhne und sichere Anstellungsverhältnisse sind unverzichtbare Schritte zu einer gerechteren Gesellschaft, aber es braucht noch mehr: Nämlich Anerkennung und Respekt gegenüber jenen Menschen, die diese wichtige Arbeit verrichten.
Etienne Schneider: Postneoliberale Wende in der deutschen Europapolitik
Während der Corona-Krise unterstützte die deutsche Bundesregierung den Corona-Wiederaufbaufonds („NextGenerationEU“), was mit großen Summen gemeinsamer Schuldenaufnahme verbunden war. Auch setzte sie sich für eine Lockerung der EU-Wettbewerbspolitik ein, um den Spielraum für aktive Industriepolitik zu vergrößern. Das war überraschend, weil Deutschland bis dahin als Wächterin des Spardiktats aufgetreten war. Etienne Schneider untersucht, was hinter diesem „postneoliberalen“ Kurswechsel steht.
Er führt die zunehmende Skepsis gegenüber dem neoliberalen Spardiktat auf geopolitische Veränderungen zurück, etwa den Aufstieg Chinas. Auch das klimapolitische Ziel der Dekarbonisierung spielt hier eine Rolle. Er sieht ein Gelegenheitsfenster für progressive Wirtschaftspolitik, das sich allerdings nicht von selbst öffnet: Damit die wirtschaftspolitische Neuorientierung nicht vornehmlich Unternehmensinteressen dient, sondern den Interessen der Vielen, braucht es breite öffentliche Debatten und demokratische Entscheidungsverfahren.
Doris Bures: Wissen, um multiple Krisen zu meistern
Die Präsidentin des Karl-Renner-Instituts Doris Bures verwies in ihren Eröffnungsworten auf die multiplen Krisen, mit denen wir als Gesellschaft konfrontiert sind, und dankte den Preisträger:innen für ihre wertvollen Arbeiten. "Diese Form von Wissen brauchen wir, um die Krisen zu bewältigen – und genau darauf zielt der Kurt-Rothschild-Preis ab: Darauf, einen gesellschaftspolitisch relevanten Zugang zu Wirtschaftswissenschaft zu würdigen, zu fördern und sichtbar zu machen, und damit die wirtschaftspolitische Debatte zu bereichern."