Michael Sandel über Populismus und die Würde der Arbeit
Wir stehen am Beginn eines Superwahljahres: 2024 wird in über 60 Ländern gewählt, die halbe Weltbevölkerung ist aufgerufen, zu den Wahlurnen zu gehen – unter anderem für das EU-Parlament im Juni, für das österreichische Parlament im Herbst, und im November finden in den USA die Präsidentschaftswahlen statt. In vielen dieser Länder sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Woran liegt das?
Überheblichkeit und Demütigung
Michael Sandels Diagnose setzt bei der tiefen Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung an, deren Ursachen er in den Folgen der neoliberalen Globalisierung verortet. Dabei geht es ihm einerseits um den Anstieg ökonomischer Ungleichheit, andererseits aber auch um Wertschätzung:
Diejenigen, die durch das neoliberale Globalisierungsprojekt zurückgelassen wurden, mussten sich nicht nur durchkämpfen, während es anderen gut ging – das ist die rein wirtschaftliche Ungleichheit. Sie bekamen darüber hinaus auch noch zu spüren, dass ihre Arbeit in den Augen der Gesellschaft – und vielleicht auch in ihren eigenen – keine Quelle sozialer Anerkennung und Wertschätzung mehr war. Ihre Arbeit bedeutete nicht länger einen geschätzten und angesehenen Beitrag zum Gemeinwohl.
Rechtspopulistische Parteien ziehen ihren Zuspruch aus dieser tiefen Unzufriedenheit. Progressive und Mitte-Links-Parteien allerdings können diese Unzufriedenheit nur schwer in Wähler:innenstimmen umsetzen, denn sie haben jahrzehntelang das Projekt der neoliberalen Globalisierung mitgetragen. Statt strukturelle Ungleichheiten offensiv zum Thema zu machen, haben sie sich vielmehr darauf konzentriert, was Sandel das „Gerede vom Aufstieg“ nennt:
Es hat einen gewissen egalitären Klang, das Gerede vom Aufstieg, denn es betont – zu Recht – wie wichtig es ist, Leistungshindernisse zu beseitigen. Wer könnte da widersprechen? Doch trotz ihrer scheinbar egalitären Tendenz hat dieses Aufstiegsgerede die Einkommens- und Vermögensungleichheiten eher verfestigt, als sie zu beseitigen. Stattdessen bot sie den Ausweg von individueller Aufwärtsmobilität durch höhere Bildung.
Dieses „Gerede vom Aufstieg“ und von sozialer Mobilität, betont Sandel, vermittelt den Erfolgreichen, dass sie ihren Erfolg verdient haben – und jenen, die den Aufstieg nicht schaffen, dass sie selbst daran schuld seien. Es führt zu Überheblichkeit auf der Seite der Gewinner:innen, und Demütigung auf der Seite der Verlierer:innen unseres Wirtschaftssystems.
Die Würde des wertvollen Beitrags
Was schlägt Michael Sandel nun vor? Wie sollen progressive Parteien und Bewegungen mit dieser tief sitzenden Unzufriedenheit umgehen, die den Nährboden für rechtspopulistische Politiker:innen darstellt? Wichtig ist jedenfalls, sich weiterhin mit sozialer Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit zu befassen, es ist aber bei weitem nicht ausreichend, argumentiert er:
Progressive Parteien müssen auch etwas über Beitragsgerechtigkeit zu sagen haben: Welche Bedingungen braucht es, damit jede Person spürt, dass sie zum Gemeinwohl beitragen kann und dafür anerkannt und wertgeschätzt wird? Eine Politik, die lediglich darauf abzielt, Ungleichheiten auszugleichen, indem sie die Kaufkraft der Mittelschicht erhöht oder das Sicherheitsnetz stärkt, wird nicht ausreichen. Sie wird nicht ausreichen, um die Wut und den Unmut, der jetzt tief sitzt, zu beseitigen. Und zwar deshalb, weil die Wut sich auf den Verlust von Anerkennung und Wertschätzung bezieht.
Progressive Politik muss sich daher auf die Würde der Arbeit konzentrieren. Das bedeutet einerseits, die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen zu verbessern, auch und vor allem jener ohne höhere Bildungsabschlüsse. Es bedeutet aber auch, das Gerede vom Aufstieg beiseite zu lassen und sich stattdessen direkt mit den strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit auseinander zu setzen. Und es bedeutet, die schädlichen moralischen Auswirkungen der Leistungsgesellschaft ernst zu nehmen:
Jede ernsthafte Antwort auf die Frustrationen der Arbeiterklasse muss daher die elitäre Überheblichkeit, die Herablassung und die bildungsbürgerlichen Vorurteile bekämpfen, die sich in der öffentlichen Kultur breit gemacht haben. Nur eine politische Agenda, die diese Verletzungen anerkennt und die versucht, die Würde der Arbeit zu erneuern, kann die Unzufriedenheit, die unsere Politik erschüttert, wirksam ansprechen.
Zum Weiterlesen
Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2020.
Weltweit sind die Populist:innen auf dem Vormarsch – der Moralphilosoph Michael J. Sandel erklärt, warum: Die Menschen wehren sich gegen die Tyrannei der Leistungsgesellschaft. Sandel fordert eine Politik des Gemeinwohls, die Gerechtigkeit und Wertschätzung als Grundlagen einer modernen Gesellschaft anerkennt.
Michael J. Sandel: Das Unbehagen in der Demokratie. Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2023 (englische Originalausgabe 1996, überarbeitet und aktualisiert).
In seinem monumentalen Werk zeichnet Michael J. Sandel ein historisch informiertes und philosophisch inspiriertes Bild unserer demokratievergessenen Zeit. Er führt aus, was wir tun müssen, damit aus Konsument:innen wieder Bürger:innen werden, die ihre Gesellschaft aktiv gestalten.
Zur Person
Michael Sandel ist US-amerikanischer Philosoph und Bestseller-Autor, er lehrt als Professor für politische Philosophie an der renommierten Harvard University. Er ist bekannt für seine tiefgehenden Analysen ethischer Fragestellungen und politischer Themen, sowie für seine besondere Fähigkeit, komplexe philosophische Konzepte verständlich und fesselnd zu präsentieren. Seine Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt, seine Harvard-Lehrveranstaltung „Justice – what’s the right thing to do?“ haben Millionen Menschen auf Youtube angesehen.