Oppositionschef Dragan Đilas zu den Wahlen in Serbien
Unfaire und gestohlene Wahlen
Am 17. Dezember finden in Serbien vorgezogene Parlamentswahlen statt. Ebenso wird in vielen Gemeinden, darunter vor allem in der Hauptstadt Belgrad, neu gewählt. Mit der Ausrufung von Neuwahlen versuchen Präsident Aleksandar Vučić und seine rechtspopulistische Serbische Fortschrittspartei (SNS), sich die Macht für weitere vier Jahre zu sichern. Wenige Tage vor dem Urnengang, nämlich am 4. Dezember, war Dragan Đilas, Vorsitzender der Partei der Freiheit und Gerechtigkeit und somit einer der führenden Oppositionspolitiker Serbiens, bei uns zu Gast, um über die Stimmung im Land, den Wahlkampf und die Zukunftsperspektiven für den Westbalkan zu sprechen. Andreas Schieder, Leiter der SPÖ-Delegation im Europäischen Parlament und demnächst Wahlbeobachter in Serbien, brachte den europäischen und österreichischen Blick in die Debatte ein. Direktorin Maria Maltschnig moderierte den Abend. Moderiert wurde der Abend von Direktorin Maria Maltschnig.
„Die Wahlen sind nicht fair, sondern schon jetzt gestohlen“, meinte Đilas und prangerte Stimmenkauf (eine Stimme koste 50 Euro), Druck auf die Wähler:innen, tätliche Angriffe auf Oppositionspolitiker:innen und die höchst einseitige Medienberichterstattung an. Vor allem Mitarbeiter:innen öffentlicher Unternehmen würden unter Druck gesetzt, für die regierende Fortschrittspartei von Präsident Vučić zu stimmen, wenn sie ihre Stelle behalten wollten. Dies alles sei bekannt und habe, wie Đilas beklagte, keinerlei Konsequenzen.
Achtungserfolg für die Opposition ist möglich
Trotz ihrer klaren Benachteiligung habe die proeuropäische Opposition, die gemeinsam unter dem Namen „Serbien gegen die Gewalt“ antritt, ihre Chancen, so Dragan Đilas. Denn viele Menschen hätten die herrschenden Zustände satt, würden unter der wirtschaftlichen Misere sowie dem gewaltvollen Kima in der Gesellschaft leiden und die Hoffnung auf ein Leben in Würde haben. Daher sei ein Sieg bei den Wahlen in Belgrad im Bereich des Möglichen. Bei den Parlamentswahlen könnte die proeuropäische Opposition immerhin mehr als 30 % der Stimmen erreichen. „Serbien gegen die Gewalt“ war auch das Motto der Massenproteste im Frühling, die sich nach den zwei schockierenden Amokläufen Anfang Mai formierten und gegen die Gewalt im Lande richteten. Für Đilas sind diese Amokläufe insofern keine große Überraschung, als beispielsweise TV-Sender wie Pink TV Gewalt regelrecht zelebrierten.
Stockende EU-Integration
Wichtiges Thema in der Diskussion zwischen Dragan Đilas und Andreas Schieder war das Verhältnis Serbiens zur EU und die EU-Integration des Landes. „Serbien ist ein europäisches Land, das nicht Teil Europas ist“, konstatierte Đilas und stellte die Frage in den Raum, wer dafür verantwortlich sei, dass Serbien heute unter Präsident Vučić weiter von der EU entfernt ist als vor elf Jahren, als er und seine Partei an die Macht kamen. Grund dafür sei vor allem eine elf Jahre dauernde antiwestliche Kampagne. Für Đilas gibt es jedoch keine Zukunft für Serbien ohne die EU. Europa habe zwei Möglichkeiten: Entweder kämen die Serb:innen nach Europa, oder Serbien sei Bestandteil Europas. Đilas und Schieder kritisierten beide die EU-Spitzenrepräsentant:innen wie Ursula von der Leyen, die so täten, als wäre unter Vučić alles in Ordnung. Schieder forderte, dass die EU Vučić nicht weiter mit Glacéhandschuhen anfassen dürfe, sondern Druck machen müsse – die serbische Bevölkerung erwarte das auch von Europa. Die EU solle nur dann Gelder bereitstellen, wenn die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingehalten werden.
Frage der Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo
Angesichts der jüngsten Spannungen zwischen Belgrad und Pristina und der gewaltvollen Zwischenfälle im Nordkosovo beklagte Đilas, dass viele Menschen immer noch in der Vergangenheit, also dem Krieg, lebten. Zudem sei die miserable wirtschaftliche Situation für die Spannungen mitverantwortlich. „Vučić und Albin Kurti [der Regierungschef des Kosovo] befassen sich mit Territorien, aber niemand mit den Menschen“, kritisierte Đilas. Schieder forderte, dass beide Seiten – also Belgrad und Pristina – getroffene Vereinbarungen einhalten müssten. Vučić biete den Menschen keine Perspektive, sondern schüre mit seinem Nationalismus Unfrieden in den Nachbarländern.
Impulsreferat
Dragan Đilas
Vorsitzender der Partei der Freiheit und Gerechtigkeit (SSP) in Serbien
Gespräch mit
Andreas Schieder
Leiter der SPÖ-Delegation im Europäischen Parlament, Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten
Moderation
Maria Maltschnig
Direktorin des Karl-Renner-Instituts