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Solidarität in der Pandemie: Vom Balkonklatschen bis zur Pflegereform

Wie steht es um die Solidarität in unserer Gesellschaft, wenn das Balkonklatschen des vergangenen Frühlings schon lange der Corona-Müdigkeit gewichen ist? Das besprechen Barbara Prainsack (Universität Wien) und Birgit Gerstorfer (SPÖ OÖ Vorsitzende und Soziallandesrätin): Warum es normal ist, dass Krisen-Euphorie abflaut, welche Formen der Solidarität weiterhin sehr deutlich sind – und für welche dringend notwendige Änderungen in der gesellschaftlichen Organisation von Pflege genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist.

"Es wird immer klarer, dass das kein kurzfristiges Intermezzo war – und das führt zu einer gewissen Form von Verdrossenheit und Überdrüssigkeit."

Barbara, du leitest gemeinsam mit anderen Kolleg:innen zwei große Corona-Forschungsprojekte, die untersuchen, wie Menschen mit der Pandemie und ihren Folgen umgehen: Erstens das Corona Panel Projekt, zweitens das Projekt „Solidarity in times of a pandemic”.

Prainsack: Ja. Die Corona-Panel Studie ist eine repräsentative Studie, damit gehen wir in die Breite, wir befragen monatlich 1.500 Personen, und können dann recht verlässlich allgemeine Aussagen über Tendenzen in der österreichischen Bevölkerung treffen. Die Befragung läuft über online Fragebögen, und die Ergebnisse werden jeweils sehr schnell analysiert und auf unserer Website veröffentlicht. Die Solidaritäts-Studie geht in die Tiefe, wir haben in zwei Wellen – im Frühling und im Herbst 2020 – mit jeweils 80 Leuten in Österreich qualitative Interviews geführt, da kann man den Menschen wirklich zuhören und sie fragen, warum sie bestimmte Dinge tun. Da dauert auch die Auswertung länger.

Das ist ein wahrer Datenschatz, den ihr damit hebt. Die Ergebnisse präsentiert ihr auf dem Corona-Blog und dem SolPan-Blog.

Prainsack: Uns ist es wichtig, die Ergebnisse direkt für die Öffentlichkeit und für die Politik verfügbar zu machen. Das ist ein wesentlicher Grund warum wir die Corona-Panel Studie durchführen: Wir wollen den Entscheidungsträger:innen nicht die Ausrede lassen, dass es keine Daten gibt. Dabei interessiert uns nicht nur, wem die Menschen vertrauen, wen sie wählen würden. Sondern: Wie geht es den Frauen mit dem Home Schooling? Wie geht es älteren und auch jüngeren Menschen mit Einsamkeit? Welche Gruppen haben Einkommensverluste gehabt? Wer ist in Kurzarbeit? In den Tiefeninterviews können wir dann auch genauer nachfragen. Beispielsweise sehen wir: Es macht wenig Sinn, die Menschen einfach nur in Maßnahmen-Befolger:innen und Nicht-Befolger:innen einzuteilen. Es gibt sehr viele Menschen, die sagen: „Ich will die großen Regeln einhalten, aber ich muss die kleinen oft brechen, weil ich es sonst nicht aushalte, weil mein Kind sonst vereinsamt“, und so weiter. Es ist nicht schwarz und weiß. Es ist also nicht nur ein wissenschaftliches Projekt, sondern auch ein Projekt mit tagespolitischer Relevanz. Wir hoffen, dass wir damit auch beeinflussen können, wie die Politik über die Menschen spricht, und was man über das Leben der Menschen weiß.

Gerstorfer: Solche Studien sind sehr wertvoll für uns. Ich bekomme schon einen Eindruck, die Menschen erzählen mir von ihrem Leben, aber ich befrage nicht systematisch 80 Personen in Tiefen-Interviews. Aus dem was ich höre ist mein Eindruck, dass es bei den Menschen eine immer größere Sehnsucht gibt, dass das jetzt aufhört, dass man den Schalter wieder umkippt, dass es wieder so ist wie im Februar 2020. Corona wirkt sich unglaublich auf die ganz persönlichen Verhältnisse, auf die Rahmenbedingungen aus, da geht es um die Gestaltung eines neuen Alltags. Es wird immer klarer, dass das kein kurzfristiges Intermezzo war – und das führt zu einer gewissen Form von Verdrossenheit und Überdrüssigkeit.

"Wenn man die Menschen fragt: Warum tun sie was sie tun? Dann sagen alle: In erster Linie, weil sie die anderen schützen wollen."

In den Studien seht ihr das auch: Im Frühling 2020 gab es eine besondere Stimmung, viele Praktiken der Nachbarschaftshilfe, ein Gefühl des Miteinanders. Im Corona Panel Projekt habt ihr einen Indikator zu der Grundstimmung in der Gesellschaft, der seit April stetig sinkt und auch im Zuge des zweiten Lockdowns nicht wieder nach oben gegangen ist. Warum geschieht das?

Prainsack: Wenn man die Entwicklungen seit dem Frühling beschreiben möchte, muss man unterschiedliche Formen der Solidarität unterscheiden. Das erste ist die Mensch-zu-Mensch Solidarität, die auch in den Medien sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat: Wir stehen am Balkon und singen und klatschen. Das ist nach einer anfänglichen Hochphase heruntergegangen, aber das ist in Krisen normal. Das kennt man auch aus Naturkatastrophen, oder aus Kriegszeiten, diese Kriegseuphorie: „Jetzt sitzen wir alle im selben Boot und bekämpfen die Bedrohung.“ Am Anfang halten alle zusammen. Dann zermürben die Menschen, und dann gehen auch die Gräben zwischen den unterschiedlichen Gruppen auf. Diese Art von Solidarität ist tatsächlich kontinuierlich gesunken.

Gerstorfer: Was im März zu spüren war, dieses solidarische Engagement, Nachbarschaftshilfe, Kontaktpflege, und so weiter, da hat es ja eine ganze Menge gegeben: Das zeigt für mich schon, dass wir viele andere Werte haben als immer nur der Arbeit nachzurennen und wie im Hamsterrad unser Leben zu leben. Ich glaube, es hat eine Unterbrechung stattgefunden, und diese Unterbrechung hat zum Nachdenken angeregt. Ich finde, das ist ein Zeichen einer solidarischen Gesellschaft, die wir im Grunde sind.

Prainsack: Das ist die zweite Form der Solidarität, das gemeinsame Handeln im Interesse einer solidarischen Gesellschaft. Das ist im Gegensatz zu diesem vorher beschriebenen Zusammenhalt-Gefühl nicht gesunken, das zeigen beide Forschungsprojekte. Wenn man die Menschen fragt: Warum tun sie was sie tun? Warum waschen sie sich die Hände, warum setzen sie sich die Masken auf? Dann sagen alle, und zwar kontinuierlich: In erster Linie, weil sie die anderen schützen wollen. Und wir sehen ebenfalls in beiden Studien, dass sich die Menschen eine gerechtere Gesellschaft wünschen. Mehr in der Krise denn je. Selbst viele mit großem Haushaltseinkommen wünschen sich eine stärkere Besteuerung von Vermögen und eine gerechtere Verteilung der Lasten. Und auch Menschen, die selbst wenig haben, machen sich um die anderen Sorgen.

Gerstorfer: Das geht entgegen einem Tenor, der vorher so stark war: „Jeder ist seines Glückes Schmied”, „Leistung muss sich lohnen”. Diese Dinge, die sehr stark an der Einzelperson andocken. „Leistung muss sich lohnen, daher müssen wir die Mindestsicherung und die Sozialhilfe drücken.“ Statt dass man die Löhne hebt und die Arbeitsbedingungen verbessert. Immer unter der Annahme, jeder rennt arbeitsscheu durchs Leben und will in der Hängematte liegen. Das stimmt ja nicht, das ist eine völlige Fehleinschätzung. Und jetzt ist dieser Tenor endlich leiser – weil wir gesehen haben, wie sehr uns ein starker Sozialstaat dabei hilft, durch diese Pandemie zu kommen: Unser gutes Gesundheitssystem, unsere Arbeitslosenversicherung, auch die Leistungen in den Pflegeheimen und den Kindergärten: Hätten wir keine Pandemie gehabt, wären diese Leistungen niemals so sichtbar geworden. Das muss man jetzt wirklich in den Vordergrund rücken.

Prainsack: Das ist die dritte Form der Solidarität, die institutionelle Solidarität. Beispiele dafür sind der Sozialstaat, progressive Steuern, oder ein öffentliches Gesundheitssystem, in das Menschen beitragen wie sie können und Leistungen erhalten wie sie sie brauchen. Auch eine öffentliche Daseinsvorsorge ist eine Form institutionalisierter Solidarität. Und dass diese immer wichtiger wird, hat sich in der Krise sehr deutlich gezeigt. In Ländern, in denen es ein gutes öffentliches Gesundheitssystem gibt, sterben nicht deshalb weniger Menschen an Corona, weil es bessere Intensivstationen gibt, sondern weil Menschen überhaupt gesünder sind, Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen gehabt haben, und so weiter. Die Bedeutung dieser institutionellen Solidarität ist für die Menschen größer und wichtiger geworden, und auch das ist nicht gesunken, das bleibt weiterhin wichtig für die Menschen.

Gerstorfer: Deshalb haben wir deutlich bessere Chancen nach Corona, den Sozialstaat zu verteidigen und auszubauen. Wenn Menschen nach einem Sozialstaat rufen, die sich vorher lieber die Zunge abgebissen hätten, bevor sie es tun, ist das ja ein durchaus gutes erstes Zeichen.

Prainsack: Ich würde hier nur gerne drei Punkte noch ergänzen. Erstens: Die Solidarität endet in Österreich leider für viele Menschen mit den Landesgrenzen. Die meisten Menschen wollen keine höheren EU-Beitragszahlungen um Menschen zu helfen, denen es schlechter geht, beispielsweise. Zweitens: Wir müssen aufpassen, dass wir in der Armutspolitik nicht alles auf Corona schieben, also dass man sich nicht nur noch auf jene konzentriert, die durch die Krise verloren haben. Auch die, die vorher schon arm waren, sind weiterhin wichtig. Armutsreduktion ist eine ganz wichtige Aufgabe der Politik, es ist auch eine Aufgabe insbesondere der Sozialdemokratie, der sie nicht ausreichend nachkommt. Und drittens: Gerade die Bedeutung von Pflege und Betreuung ist in den letzten Monaten so deutlich geworden. Das muss ein Teil unserer Daseinsvorsorge werden.

"Strukturell kann man das nur verbessern, wenn man dem Pflegeberuf ein höheres Ansehen verleiht, und das geht natürlich in erster Linie durch höhere Löhne."

Beim Thema Pflege ist durch die Pandemie sehr klar sichtbar geworden, welche strukturellen Probleme es gibt – und auch schon lange vor Corona gab. Was wären die wichtigsten Maßnahmen, um hier strukturell etwas zu verbessern?

Gerstorfer: Strukturell kann man das nur verbessern, wenn man dem Pflegeberuf ein höheres Ansehen verleiht, und das geht natürlich in erster Linie durch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Höhere Löhne und ein besserer Pflegepersonalschlüssel, also wieviel Personal steht für wie viele Pflegebedürftige zur Verfügung, sind ein absolutes Muss. Wenn sich das Ansehen des Arbeitsplatzes in der Pflege erhöht, dann wird das Interesse auch größer, dorthin zu gehen – und nur so können wir den Arbeitskräftebedarf in der Pflege stemmen. Das geht mit einer angemessenen Entlohnung. Der Sinn der Pflegearbeit steht ja außer Zweifel und auch die Arbeitsplatzsicherheit.

In Oberösterreich wurden in Alten- und Pflegeheimen zusätzliche Hilfskräfte eingestellt – allerdings nur befristet bis Ende Februar (Anm.: nun verlängert bis Ende April).

Gerstorfer: Ja, und die Rückmeldungen sind alle super positiv, weil das genau das ist, was die Pflegekräfte brauchen. Helfende Hände, die die kleinen Dinge erledigen, für die man nicht unbedingt zwei Jahre in der Ausbildung gesessen sein muss. Mir hat letztens eine Pflegedienstleiterin erzählt, sie haben 250 Kühlschränke zu putzen und von 500 Fenstern die Vorhänge zu waschen. So banale Dinge. Wenn das eine Hilfskraft macht und nicht eine ausgebildete Pflegerin, dann verändert das die Arbeitsbedingungen und das Ansehen des Berufs.

Prainsack: Das ist wahrscheinlich einer der wenigen Vorteile, die diese Krise hat: Bei vielen Dingen, wo früher alle die Hände in die Höhe geworfen haben und gesagt haben, es ist denkunmöglich und niemals, niemals geht es: Das geht jetzt plötzlich. Jetzt ist die Zeit, in der wir große strukturelle Änderungen andenken und anstoßen müssen, die vorher als undenkbar gegolten haben. Ich denke, beim Pflegesystem ist den meisten Menschen jetzt klar, dass wir da als Gesellschaft eine Lösung brauchen.

Gerstorfer: Eine Studie der Volkshilfe hat vor kurzem gezeigt, dass 93 Prozent der Bevölkerung sagen, dass Pflegekräfte besser entlohnt werden sollen und kürzere Arbeitszeiten brauchen. Also in der Bevölkerung ist das Bewusstsein da, aber in der Politik, bei denen, die es finanzieren müssen, nicht. Ich verstehe aber auch, dass die Gemeinden das nicht stemmen können. Was früher das Armen-, Siechen- und Waisenwesen war, ist heute die Sozialhilfe, die Pflege, die Kinder- und Jugendhilfe. Das Gesetz ist aber immer noch das gleiche, und in dem Gesetz steht, dass jede Gemeinde für ihre Armen, Siechenden und Waisen verantwortlich ist – damit ist auch die Finanzierung bei den Gemeinden. Das erfordert unbedingt eine Änderung. Wenn nämlich Gemeinden nicht mehr 25 Prozent ihres Budgets für Soziales aufwenden müssen, sondern deutlich mehr, dann wird es innerhalb kürzester Zeit einen Wettbewerb geben in der Gemeinde: Kann ich mir das Feuerwehrauto und die Straßensanierung noch leisten, oder kümmere ich mich um die Kinder und die Alten?

Prainsack: Zu diesem Schluss sind wir auch gekommen, dass es daran hakt. Man muss diese historischen Eigentümlichkeiten verändern – nicht nur, damit die Gemeinden nicht mit der Finanzierung alleingelassen werden, sondern weil das ein Problem ist, das gesamtgesellschaftlich, strukturell anders gelöst werden muss. Das hat auch damit zu tun, dass Pflege traditionell Frauenarbeit war. Das hat nichts gekostet, wurde nicht als wertvoll gesehen. Die institutionalisierte Medizin war ja im Gegensatz dazu Männerarbeit, und da hat man sehr schnell eine große, solidarische Lösung gefunden. Die Pflege hat man aber mit der Waisen- und Armenfürsorge in den Gemeinden belassen. Da braucht es eine Änderung, und da sehe ich die Corona-Krise als Möglichkeitsrahmen für diese strukturellen Änderungen: Weil wir jetzt sehen, wie aufgeschmissen wir alle wären, wenn diese unterbezahlte und unbezahlte Arbeit nicht getan würde.

Gerstorfer: Und es wird auch immer weniger möglich sein, dass die Altenpflege einfach die Mama übernimmt wenn die Kinder aus dem Haus sind. Das geht sich bald nicht mehr aus. Erstens ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen massiv gestiegen, zweitens bekommen Frauen ihre Kinder jetzt später als früher, drittens steigt das Pensionsantrittsalter. Ich kann das an meinen eigenen drei Generationen zeigen, dann ist das gut verständlich: Meine Mama ist mit 55 in Pension gegangen, da war ihre Mama 79. Wenn ich in Pension gehe – ich kann gerade noch mit 60 gehen – dann ist meine Mama 84. Wenn meine Töchter dann mit 65 in Pension gehen, bin ich 91. Ich müsste es also bis 91 schaffen, ohne Pflege auszukommen. Daher kann ich mir ganz sicher schon ausrechnen, dass ich einmal nicht von meinen Töchtern gepflegt werde – und zwar wurscht, welche Ideologie zu diesem Zeitpunkt an der Macht ist. Wichtig wird dann sein: Wie haben wir die Zeit genutzt, die Pflege als attraktiven Arbeitsplatz zu gestalten? Denn es muss ausreichend Personal zur Verfügung stehen, damit auch die Babyboomer darauf vertrauen können, dass sie qualitätsvoll gepflegt werden, wenn sie Pflege brauchen.

Zu den Personen

Barbara Prainsack ist Professorin und Institutsleiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie leitet dort die Forschungsplattform „Governance of digital practices“ sowie die Forschungsgruppe „Zeitgenössische Solidaritätsstudien“. Sie ist Mitglied der European Group on Ethics in Science and New Technologies und der Österreichischen Bioethikkommission, sowie Teil des Wissenschaftlichen Netzwerks des Karl-Renner-Instituts. In ihrem jüngsten Buch, „Vom Wert des Menschen“ plädiert sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Birgit Gerstorfer ist Vorsitzende der SPÖ Oberösterreich und oberösterreichische Landesrätin für Soziales, Kinder- und Jugendhilfe, Gemeinden und Tierschutz. Davor leitete sie als Geschäftsführerin das Arbeitsmarktservice Oberösterreich. Ihr programmatischer Fokus liegt vor allem auf einem Ausbau im Pflege- und Betreuungsangebot und zusätzlichem, qualifiziertem Personal im Pflegesektor.