Strafrecht als Spielball der Politik?
Das Gespräch zwischen der profilierten Strafverteidigerin Alexia Stuefer und SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim fand im Oktober 2021 statt – kurz nach den durch die Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft beauftragten Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt und in der ÖVP-Zentrale, und ein paar Tage nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler. Das bereits aufgeheizte Verhältnis zwischen der ÖVP und der Justiz hatte an Reibungswärme gewonnen; das Thema des Gesprächs – Strafrecht als Spielball der Politik – an tagespolitischer Relevanz und Schärfe zugelegt.
Alexia, du hast gemeinsam mit deinem Kollegen Richard Soyer ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Der Kampf um das Strafrecht“. Für mich als Nicht-Juristin eine kurze Frage zur Einordnung: Im Zivilrecht geht es um das Verhältnis zwischen Personen; das Völkerrecht betrifft das Verhältnis zwischen Staaten; und das öffentliche Recht schließlich behandelt das Verhältnis zwischen Bürger:in und Staat. Stimmt das so?
Stuefer: Genau. Mein Bereich, das Strafrecht, zählt zum öffentlichen Recht, weil hier – mit wenigen Ausnahmen – Staat und Bürger:in einander gegenüberstehen. Während das Strafrecht durch eine starre Hierarchie und ein Machtgefälle mit übermächtigem Staat gekennzeichnet ist, treffen die Parteien im Zivilrecht – jedenfalls formell – auf gleicher Stufe aufeinander.
Im Vorwort schreibt ihr, dass ihr euch Sorgen macht um das Strafrecht, um seine liberale Prägung und seine zivilisatorische Kraft. Was meint ihr damit? Welche Rolle hat das Strafrecht in einer liberalen Demokratie, in einer zivilisierten Gesellschaft?
Stuefer: Derzeit spielt es noch eine große und wichtige Rolle. Nach aktueller Auffassung soll es das gesellschaftliche Zusammenleben verbessern – nicht im Sinne einer ökonomischen Optimierung, sondern zum Zwecke der Konfliktvermeidung. Ich beobachte aber mit Sorge, dass insbesondere im letzten Jahrzehnt das Strafrecht aufgebläht und überladen wird, indem ständig neue Straftatbestände eingeführt, also Delikte geschaffen und die Strafdrohungen erhöht werden. Dem Strafrecht werden gesellschaftliche Problemstellungen zugeschoben, die es nicht lösen kann. Damit wird politisches Kleingeld gemacht, der Boulevard ist kurzfristig zufriedengestellt, aber die Konflikte brodeln unter der Oberfläche weiter. Das Strafrecht wird so in gewisser Weise zur Makulatur, es dient der Gewissensberuhigung und Machtstabilisierung, während die manipulierte, oft gezielt falsch oder unvollständig informierte Öffentlichkeit weiter mit denselben Problemen kämpft. Eine besorgniserregende Entwicklung.
Yildirim: Was wir, als SPÖ im Parlament, zu dieser Anlassgesetzgebung immer wieder betonen: In den vergangenen 30 Jahren sind die Ressourcen für die Justiz dermaßen gekürzt worden, dass bereits die bestehenden Bestimmungen gar nicht zur Anwendung kommen, weil die Staatsanwält:innen und Richter:innen nicht die Ressourcen haben, sich dem Vollzug so zu widmen, dass sie jeden Einzelfall in entsprechender Zeit bearbeiten können. Oder auch vorgelagert die Polizei: Die haben gar nicht ausreichende Ressourcen, um den Schwerpunkt auf Prävention zu legen, also dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu Straftaten kommt.
Welche Arten von Straftaten meinst du?
Yildirim: Nehmen wir aus der jüngsten Vergangenheit den tragischen Tod der 13-jährigen Leonie. Oder die vielen Femizide, also Morde an Frauen, und Sexualdelikte. Jedes Mal heißt es: noch mehr, noch härtere Strafen und neue Bestimmungen. Wirklich wirksam wären aber viel breitere Maßnahmen in der Sozialpolitik und Bildungspolitik, Geschlechtergerechtigkeit und Gewaltprävention. Aber da ist überall gespart und gekürzt worden. Die türkis-blaue Regierung hat 2018 demonstrativ die Mittel für progressive und emanzipatorische Frauenberatungsstellen gekürzt und gleichzeitig die Mittel für jene Familienberatungsstellen erhöht, die eher konservative Rollenzuschreibungen vermitteln.
Stuefer: Das Sexualstrafrecht ist ein sehr gutes Beispiel: Die Politik folgt dem Ruf nach härteren Strafen, obwohl sie genau weiß, dass präsumtive Täter:innen durch die Androhung und Verhängung von Freiheitsstrafen – also Haft – nicht davon abgehalten werden, auch schwere Sexualverbrechen zu begehen. Würde die Politik „evidenzbasiert“ vorgehen und sich von sachgerechten Motiven leiten lassen, würde sie auf die Wissenschaft und Forschung hören: Die Ursache des Problems liegt oft in der patriarchalen Gesellschaftsstruktur und in überkommenen Männlichkeitsbildern. Ich erlebe viele Angeklagte und Verurteilte als zutiefst verunsicherte, verzweifelte, von Scham besetzte Männer. Sie sind ebenso hilfsbedürftig wie Frauen, nur bekennt sich die Gesellschaft nur zum Teil dazu. Hier besteht Handlungsbedarf. Übrigens sollten wir hier auch offen ansprechen, dass auch Frauen bei der Überwindung von patriarchalem Denken Hilfe brauchen.
Yildirim: Auf parlamentarischer Ebene setzen wir seit mehreren Jahren Initiativen für opferschutzorientierte Täterarbeit. Sinnvoll sind beispielsweise kostenfreie Anti-Aggressions-Trainings, und zwar schon bei einer Anzeige, also noch vor einer Verurteilung, um die Gewaltspirale zu durchbrechen und zu verhindern, dass es zu einer Eskalation kommt. Diese Anträge werden im Parlament leider meistens vertagt und damit auf die „lange Bank“ geschoben, also nicht umgesetzt.
In ein paar Beiträgen im Buch fordert ihr „mehr Sicherheit durch weniger Haft“ und schlagt vor, öfter einen außergerichtlichen Tatausgleich anzustreben.
Stuefer: Ja. Der Grund für diese Forderung sind die Ergebnisse der Forschung, wonach weniger „punitive“, also weniger repressive und strafende Maßnahmen einen vergleichbaren Effekt in der Verbrechensbekämpfung erzielen. Anders gesagt, es kann Haft reduziert werden, ohne dass Kriminalität oder Sicherheitsrisiko steigen. Bei Gewaltdelikten sind, meiner Erfahrung nach, professionell geführte Gespräche zwischen Opfern und präsumtiven Täter:innen im Rahmen des außergerichtlichen Tatausgleichs für das Opfer immens wichtig. Das Opfer kann hier seine eigene Sicht der Dinge ausdrücken, diese Gespräche sind oft klärender und „genugtuender“ als das traditionelle Strafverfahren. Der ursprüngliche Zweck des Strafverfahrens ist ja, einen strafrechtlichen Tatverdacht aufzuklären; üblicherweise beantwortet das Opfer vor Gericht Fragen, während es selbst keine Fragen stellen kann. Opferrechte haben erst relativ spät, also in den vergangenen zwei Jahrzehnten, Eingang in das Strafverfahrensrecht gefunden, meines Erachtens nicht in optimaler Form.
Solche Gespräche können aber auch zu einer Retraumatisierung von Gewaltopfern führen.
Stuefer: Ja, meines Erachtens kann eine Retraumatisierung nie verhindert werden. Die Kritik der Frauenberatungsstellen, die sich in diesem Bereich seit Jahrzehnten eine umfassende Expertise erarbeitet haben, ist sehr ernst zu nehmen. Es braucht mehr Betreuungsstrukturen und es ist wichtig, Opfern auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei spielt auch Sprache eine Rolle – der Begriff „Opfer“ ist zum Beispiel unter Jugendlichen ein Schimpfwort. Gewaltausübung vernichtet Sprache. Es gilt, Opfern in Strafverfahren eine Stimme zu geben, und für einen Rahmen zu sorgen, in dem sie ihre verletzte Würde selbst wiedererlangen können.
Wenn wir nun einen Bogen schlagen zu den laufenden Untersuchungen und Vorwürfen gegen Sebastian Kurz und sein Umfeld: Hier geht es um Korruption, und der wird strafrechtlich begegnet, richtig?
Stuefer: Es ist wichtig, sich über die Eigenart der Korruptionsdelikte im Klaren zu sein. Warum sind diese Verbrechen so schwer aufzudecken und zu bekämpfen? Das liegt unter anderem daran, dass das Opfer – meistens ist das die Allgemeinheit – gar nichts von seinem Opferstatus und vom immensen Schaden, der durch Korruption angerichtet wird, erfährt. Mittlerweile gibt es Strukturen, die Tatbeteiligten und Mitwissenden den Ausstieg bzw. eine Aussage ermöglichen, also Regelungen zu Kronzeug:innen und Whistleblower:innen. Korruption ist vielleicht das „politischste“ aller Delikte. Es kann allein mit den Mitteln des Strafrechts nicht bekämpft werden, entscheidend ist die innere Haltung zu den Grundwerten der Gesellschaft.
Yildirim: Österreich hat seit vielen Jahrzehnten ein Problem mit der unabhängigen Korruptionsbekämpfung. Neue Korruptionsbestimmungen und Verschärfungen gab es eigentlich immer nur auf internationalen Druck. Dazu gehört auch die Gründung der WKStA, der „Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption“.
Die WKStA wurde 2009 von der letzten SPÖ-Justizministerin, Maria Berger, gegründet. War damals schon absehbar, welche große innenpolitische Bedeutung diese Staatsanwaltschaft bekommen würde?
Yildirim: Der Grundstein wurde 2009 gelegt, und 2011 wurden die Kompetenzen um den Bereich der Wirtschaftsdelikte erweitert. Maria Berger schätze ich sehr dafür, sie hat die internationale Kritik an den mangelnden Antikorruptionsbestimmungen in Österreich gehört, den Handlungsbedarf erkannt und die notwendigen Schritte durchgesetzt. Es war schon damals mühsam genug, das mit der ÖVP umzusetzen. Ursprünglich waren in der WKStA nur 4 oder 5 Personen. Aber der Grundstein wurde gelegt, das war sehr wichtig. Heute besteht die WKStA aus etwa 40 Staatsanwält:innen, das hat sich gut entwickelt. Es ist aber immer noch keine unabhängige und ausreichend mit Ressourcen ausgestattete Strafverfolgungsbehörde. Wichtig wäre, dass die Weisungsspitze entpolitisiert wird, also nicht parteipolitisch besetzt ist. Das wird auch vom Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU Kommission kritisiert.
Hier gibt es, auch von der SPÖ, die Forderung nach einer unabhängigen Bundesstaatsanwältin. Alexia, du bist als Strafverteidigerin normalerweise die Gegenspielerin der Staatsanwaltschaft. Wie stehst du zu diesem Vorschlag?
Stuefer: Die Vorschläge sind auch aus rechtsphilosophischer Sicht interessant. Sie betreffen die großen Fragen der Aufteilung und des Austarierens von Macht. Ich würde es nicht unterstützen, wenn dadurch ein Machtzuwachs bei den Staatsanwaltschaften erfolgt. In meiner Praxis sehe ich, wie verheerend Ermittlungsmaßnahmen, zB Hausdurchsuchungen, auf Betroffene wirken, wenn diese zu Unrecht erfolgen. Staatsanwält:innen können Ermittlungsmaßnahmen beantragen, die intensiv in Grundrechte eingreifen; nicht selten genehmigen Gerichte solche Anträge voreilig. Oft kann erst nach monatelangem Ringen ein Erfolg im Rechtsmittelverfahren erzielt werden, und das kann das Trauma einer Hausdurchsuchung oder Festnahme nicht wettmachen. Manche Betroffene erholen sich nie wieder von solchen Übergriffen. Das schadet dem Rechtsstaat. Ich bin daher sehr zurückhaltend und bis dato hat mich kein Vorschlag überzeugt – im Unterschied zu meinem Mitautor, Richard Soyer.
Yildirim: In der aktuellen Weisungskette liegt die Letztentscheidung bei der Ministerin, und ist somit parteipolitisch geprägt. Stattdessen soll die oberste Weisungshoheit bei einem unabhängigen und weisungsfreien Staatsanwalt oder Staatsanwältin liegen, die von einer breiten parlamentarischen Mehrheit bestellt wird – unser Vorschlag ist eine 2/3 Mehrheit im Parlament, möglich wäre auch eine ¾ Mehrheit. Damit ist die Chance gegeben, dass sich diese Person an der Spitze keiner politischen Partei verpflichtet fühlt. Zusätzlich soll laut unserem Vorschlag eine Bestellung auf 12 Jahre erfolgen und keine Wiederbestellung möglich sein. Und eine jährliche Berichtspflicht der Bundesstaatsanwaltschaft gegenüber dem Parlament, mit Anfragerecht der Parlamentarier:innen.
Stuefer: Danke für diese Präzisierungen. Ich habe höchsten Respekt vor dem Vorschlag und ich bin auch neugierig. Nur bin ich sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Strafverfolgungsorgane mit noch mehr Macht auszustatten.
Wir erleben gerade, dass die Justiz von ÖVP-Politiker:innen kritisiert und diffamiert wird, etwa sie der WKStA unterstellen, dass es dort „linke Zellen“ gebe und die Ermittlungen politisch motiviert seien. Wie ordnet ihr das ein? Erleben wir hier gerade eine Zuspitzung?
Yildirim: Seit etwas mehr als 1 ½ Jahren ist die WKStA, die wichtigste Korruptionsbekämpfungsbehörde in Österreich, im Visier der ÖVP. Wie gesagt, die ÖVP war immer schon eine schwierige Partnerin, wenn es darum ging, Korruptionsbekämpfung voranzutreiben. Dass sich das gerade zuspitzt, liegt meiner Ansicht nach daran, dass wir gerade einen Generationenwechsel in der Staatsanwaltschaft beobachten können: Da wird ermittelt ohne Ansehen der Person, und ohne sich von diesen Zurufen aus der Politik einschüchtern zu lassen. Das stimmt mich zuversichtlich, denn ein liberaler Rechtsstaat lebt von öffentlich Bediensteten, die Haltung haben, die ihren Aufgabenbereich und ihren gesetzlichen Auftrag sehr gut kennen. Die Attacken von ÖVP-Politiker:innen zielen darauf ab, das Image der Strafverfolgungsbehörde zu beschädigen, die Objektivität der WKStA in Zweifel zu ziehen, und das Vertrauen gegenüber der Justiz, das ja recht hoch ist, zu erschüttern. Das halte ich demokratiepolitisch für sehr, sehr bedenklich.
Stuefer: Auch die eleganteste Verfassung braucht Menschen, die sie als solche erkennen und sie „leben“. Mit Sebastian Kurz und seinem Umfeld ist eine Gruppe von Personen an die Macht gekommen, die – es zeigt sich immer deutlicher – die Verfassung und ihre Institutionen entweder gar nicht kennen oder sie nicht anerkennen und respektieren. Zuletzt entstand für die außenstehende Beobachter:in der Eindruck, als halte diese Gruppe die WKStA für eine Abteilung des Bundeskanzleramts, die aus dem Kabinett heraus regiert wird. So funktionierte die Kabinettsjustiz, die eigentlich als überwunden gelten sollte.
Yildirim: Es entsetzt mich, wenn ich Meldungen höre, gerade rund um den Altkanzler und sein „Projekt Ballhausplatz“: Das sei doch immer schon so gewesen, das würden doch alle so machen. Hier ist es wichtig dagegenzuhalten, gegen eine scheinbare Selbstverständlichkeit von Korruption und Machtgier. Wir Politiker:innen müssen hier dagegenhalten, und auch die Zivilgesellschaft. Es gibt gerade ein tolles Anti-Korruptions-Volksbegehren, das man unterstützen kann. In dem Zusammenhang muss ich auch dem investigativen Journalismus ein Kompliment aussprechen. Vieles hätten wir nicht erfahren, wenn wir nicht so mutige Journalist:innen gehabt hätten. Und das, obwohl es auch in diesem Bereich sehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse gibt, und obwohl die Machtstrukturen hinter den Medienhäusern sehr undurchsichtig sind und geprägt von Inseratenpolitik. Ich bewundere den Mut dieser Generation von investigativen Journalist:innen, die das thematisiert haben, die sich getraut haben, darüber zu schreiben.
In eurem Buch bezeichnet ihr das Ibiza-Video als zivilen Ungehorsam und fordert, dass das nicht bestraft wird – und zwar deswegen, weil es für die Veröffentlichung ein „überwiegendes öffentliches Interesse“ gibt. Wie definiert man das?
Stuefer: In Situationen, in denen verschiedene Interessen oder sogar Grundrechte aufeinanderprallen, kann die Lösung gesucht werden, indem Interessen abgewogen werden. Der Begriff „überwiegendes öffentliches Interesse“ bedeutet, dass das öffentliche Interesse in einem bestehenden Konflikt als schützenswerter bzw. höher zu bewerten ist. Wenn also beispielsweise der Schutz von Persönlichkeitsrechten politisch exponierter Personen dem Bedürfnis der Öffentlichkeit auf Information gegenübersteht, dann muss letztlich das Gericht würdigen, welchem Interesse der Vorzug zu geben ist. Im angesprochenen Fall besteht kein Zweifel, dass die Öffentlichkeit das Recht hatte, das Video zu sehen.
Yildirim: Aber ist es nicht erstaunlich, dass in der öffentlichen Diskussion so viel Raum dafür gegeben wird, dass diese Videoaufnahmen auf Ibiza gemacht wurden und wer die Hintermänner sind – anstatt über den Inhalt zu sprechen? Oder auch jüngst, durch die Veröffentlichung der Chats: Dass versucht wird, den Schwerpunkt nicht auf den Inhalt der Chats zu legen, sondern darauf, dass sie überhaupt veröffentlicht wurden! Das geht dann so weit, dass sogar vom Parlamentspräsidenten Sobotka gefordert wird, die Wahrheitspflicht im Untersuchungsausschuss abzuschaffen – und damit das schärfste Instrument der Opposition im Parlamentarismus zu schwächen. Anstatt zu sagen: Wir haben nichts zu verbergen, die Bürgerinnen und Bürger sollen diese Diskussionen mitverfolgen können.
Ein sehr strapazierter Begriff ist auch die Unschuldsvermutung. Im juristischen Sinne ist klar: Bis jetzt ist rund um die aktuellen Chats noch niemand angeklagt, und schon gar nicht verurteilt. Aber es ist schon auffällig, dass auch die Medien bei jeder Gelegenheit betonen, dass die Unschuldsvermutung gilt. Ist das angemessen?
Stuefer: Ich halte die Unschuldsvermutung für eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Sie schützt alle Menschen ohne Ansehen der Person. Der Staat ist verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass auch Medien in ihrer Berichterstattung darauf achten, Vorverurteilungen zu verhindern. Manchmal bewirkt das obligate „Es gilt die Unschuldsvermutung“ das Gegenteil. Wenn sich nun die Beschuldigten im besagten Fall über Vorverurteilungen beschweren, dann ist das eine legitime Verteidigung – staatspolitisch halte ich es aber für sehr bedenklich. Vor allem weil ja akkurat der ehemalige Kanzler in mindestens einem Fall öffentlich „die volle Härte des Gesetzes“ gegen Personen gefordert hat, für die die Unschuldsvermutung galt. Die Regierung – ein Blick in die Verfassung genügt – kann und hat der Justiz gar nichts zu sagen.
Yildirim: Der Begriff der Unschuldsvermutung wird gerade ganz eindeutig politisch instrumentalisiert. Wir reden hier ja nicht vom Strafrecht. Mag sein, dass es jetzt in den Ermittlungsverfahren zu keiner Anklage kommt; oder wenn Anklage erhoben wird, dass es zu keiner Verurteilung kommt; oder wenn es doch zu einer Verurteilung kommt, dass diese vom Höchstgericht wieder gekippt wird. Darum geht es aber gar nicht. Die politische Verantwortung endet nicht im Strafrecht. Es geht um die politische Kultur und Haltungen, und die zeigen sich eindeutig in den Chats. In diesem Zusammenhang die Unschuldsvermutung zu bemühen, geht am Thema vorbei.
Alexia Stuefer ist Strafverteidigerin und Partnerin in der Anwaltskanzlei Soyer Kier Stuefer. Sie fungiert als Vizepräsidentin der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen und seit Sommer 2021 auch als Stellvertreterin des Kammeranwalts der Rechtsanwaltskammer Wien. Darüber hinaus lehrt sie an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und ist Redaktionsmitglied des Journals für Strafrecht, sowie Autorin zahlreicher juristischer Fachpublikationen.
Selma Yildirim ist SPÖ-Nationalratsabgeordnete und Bereichssprecherin für Justiz. Nach der Ausbildung und Berufstätigkeit als kaufmännische Angestellte arbeitete sie als Beraterin in einem Migrant:innenzentrum in Tirol sowie als Lehrbeauftragte an der Akademie für Sozialarbeit der Caritas, und absolvierte parallel dazu das Jus-Studium an der Universität Innsbruck. Yildirim ist außerdem Bezirksfrauenvorsitzende der SPÖ Innsbruck und Landesfrauenvorsitzende der SPÖ Tirol.