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Über Migration sprechen: Wo entzündet sich der Diskurs?

Unsere Gesellschaft ist zunehmend polarisiert, immer stärker stehen einander unversöhnliche Lager gegenüber: kosmopolitisch orientierte Akademiker:innen in den urbanen Zentren auf der einen Seite, kommunitaristisch orientierte Gruppen mit niedrigen Bildungsabschlüssen im ländlichen Raum auf der anderen Seite. So lautet eine gängige Gesellschaftsdiagnose, die sogenannte Polarisierungsthese. Doch stimmt das wirklich? Dieser Frage hat sich ein Soziologen-Trio rund um Steffen Mau an der Humboldt-Universität zu Berlin in einem Forschungsprojekt gewidmet. Die Ergebnisse finden sich im äußerst lesenswerten Buch „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Suhrkamp Verlag).

Die Hauptaussage sei an dieser Stelle schon vorweggenommen: Die Daten belegen diese Polarisierungsthese nicht. Wie ausgeprägt die Lagerbildung in der Gesellschaft ist, messen die Forscher unter anderem mit einem Polarisierungsindex. Und dieser erweist sich über die letzten 20 Jahre als erstaunlich stabil, obwohl sich in der Gesellschaft, der Wirtschaft, und dem politischen Diskurs in diesem Zeitraum enorme Veränderungen ereignet haben.

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser untersuchen politische Konflikte in Deutschland in vier Arenen der Ungleichheit: Oben-Unten- (Einkommens- und Vermögensverteilung), Innen-Außen- (Grenzen und Migration), Wir-Sie- (Diskriminierung bestimmter Gesellschaftsgruppen) und Heute-Morgen-Ungleichheiten (Umweltzerstörung und Erderhitzung). Dabei interessiert sie nicht nur, wie sich in diesen Themenbereichen die Einstellungen der Menschen entwickeln und ob sich die Meinungen zunehmend auseinanderentwickeln, also polarisieren. Sondern die Wissenschafter analysieren auch, inwieweit die Einstellung zu Ungleichheit mit der eigenen Position in der Gesellschaft, also mit der eigenen sozialen Lage und dem Bildungsstand zusammenhängt. Auch hier zeigt die Studie, dass Bildung und Klasse zwar einen gewissen, aber nicht besonders starken, Einfluss auf die Einstellung der Menschen haben. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung gibt es kaum Hinweise auf Einstellungs-Unterschiede zwischen Stadt und Land, und auch nicht zwischen den Generationen.

Und schließlich – und daher kommt auch der Titel des Buches – finden die Soziologen in ihrer Studie heraus, wo sogenannte „Triggerpunkte“ liegen: Das sind jene Punkte, an denen Konsens in Dissens umschlägt. Hier werden Konflikte aufgeheizt; statt differenzierter und konstruktiver Diskussionen können nur noch Extrempositionen gehört werden und es ist keine Einigung mehr möglich, obwohl die Grundeinstellungen in der Bevölkerung zu diesem Thema eigentlich gar nicht so stark polarisiert sind.

Triggerpunkte im Migrationsdiskurs

Zum Thema Migration finden sie vier typische Triggerpunkte. Erstens das Gefühl der Ungleichbehandlung, wenn also Menschen den Eindruck haben, dass sich andere in der Warteschlange vordrängen. Es gibt zwar einen breiten Konsens, dass Einwanderung wirtschaftlich nützlich sein kann, vor allem in Zeiten von Arbeitskräftemangel. Meinungsverschiedenheiten bestehen aber darüber, welche Formen von Migration legitim sind: Die einen sprechen von Wirtschaftsflüchtlingen, die unser Sozialsystem schröpfen, die anderen sehen vor allem die Beiträge von Migrant:innen für das Funktionieren unserer Wirtschaft und Gesundheitsversorgung. Wenn nun etwa der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz über Asylwerber:innen sagt: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine“, dann stimmt das natürlich nicht, aber trotzdem wirkt so eine Aussage. Merz triggert damit das Gefühl der Ungleichbehandlung, schürt Ressentiments und heizt den Diskurs auf.

Ein zweiter Triggerpunkt ist die Befürchtung einer Entgrenzung. Diese Furcht wird vermittelt, wenn Flucht- und Migrationsbewegungen als „Welle“ oder „Flut“ beschrieben werden, oder wenn von Kontrollverlust die Rede ist. Auch hier gibt es zwar Einigkeit in der Bevölkerung, dass Migration im Grunde in Ordnung ist, und breite Zustimmung zu humanitärem Schutz, also zur Aufnahme von Geflüchteten. Uneinigkeit besteht aber über die Frage, ob der Staat in der Lage ist, Migrationsströme zu regulieren.

Drittens erklären die Autoren, dass Normalitätsverstöße ein Triggerpunkt sind, der die Debatte über Migration und Integration zum Entgleisen bringen kann – also der Eindruck, dass etwas in die Gesellschaft kommt, das vom Üblichen, vom Angemessenen abweicht. Dieser Triggerpunkt spaltet hinein in den Gegensatz zwischen jenen, die Migrant:innen als kulturelle Bereicherung sehen, und jenen, die Migrant:innen vor allem als fremd erleben und von „arabischen Clans“ oder „Parallelgesellschaften“ sprechen. Eng damit verbunden ist auch der vierte Triggerpunkt, nämlich die Verhaltenszumutung: Einerseits gibt es breite Zustimmung dazu, Integration von Migrant:innen, und hier vor allem Spracherwerb, zu fördern. Uneinigkeit besteht aber darüber, wer für diese Integrationsleistung verantwortlich ist – die Migrant:innen oder die Aufnahmegesellschaft.

Politik gestaltet Meinung

Insgesamt zeigt die Studie, dass es im Bereich der Innen-Außen-Ungleichheiten zwar einen recht breiten Konsens gibt, der Migration gut und notwendig findet und Inklusion befürwortet. Es handelt sich beim Diskurs um Migration allerdings um einen leicht politisierbaren Konflikt, der sehr anfällig ist für Triggerpunkte. Und wie die Untersuchung verdeutlicht, gestalten Politiker:innen den Diskurs und können ihn auch zum Entgleisen bringen, indem sie diese Triggerpunkte berühren. Rechte Parteien sind sehr erfolgreich dabei, das Thema Migration zum Zentrum der politischen Debatte zu machen und die Ressentiments und Ängste der Menschen in politisches Kapital zu verwandeln.

Als Steffen Mau und Linus Westheuser im Februar in Wien waren (auf Einladung des Kreisky Forums), waren sie auch bei uns im Renner Institut zu Gast. In einer kleinen Runde aus Politiker:innen und Wissenschafter:innen haben wir mit ihnen über ihre Studie gesprochen und gemeinsam darüber nachgedacht: Wie können progressive Akteur:innen die öffentlichen Debatten rund um Migration und Integration mitgestalten? Wie kann man selbst in aufgeheizten Diskursen noch Gehör finden und differenzierte Argumente einbringen?

Ein wesentlicher Gedanke aus den gemeinsamen Überlegungen: Das politische Kernthema der Sozialdemokratie ist die soziale Frage, Gerechtigkeit und Verteilung – in den Begrifflichkeiten der Triggerpunkte-Studie: Oben-Unten-Ungleichheiten. Man kann jedes Thema von oben und von unten betrachten; das Wesensmerkmal der Sozialdemokratie ist es, von unten auf die Dinge zu blicken: aus der Position jener, die weniger Geld, Macht und Einfluss haben. So auch bei Migration: Wenn wir etwa dafür stehen, dass ausländische Arbeitnehmer:innen Rechte haben und sich nicht ausbeuten lassen müssen, dann ist das auch im Interesse der einheimischen arbeitenden Menschen, denn dann können auch deren Arbeitsrechte nicht so einfach untergraben werden.

Wie der Diskurs über Migration gestaltet wird, wirkt sich auf uns alle aus: auf alteingesessene Österreicher:innen, auf Kinder und Enkel von Gastarbeiter:innen, auf Neuangekommene. Wenn wir Migration diskutieren, dann sprechen nicht „wir“ über „die anderen“, sondern dann ist das ein Gespräch über, von und mit Menschen, die hier leben, die Teil dieser Gesellschaft sind.