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„Wir“ und die Neutralität - Eine alte Idee und ihr Bezug zu Karl Renner und zur Sozialdemokratie

Neutralisierung als Rettungsphantasie in der Mitte Europas

Die Vorstellung, dass Österreich-Ungarn in Zeiten wachsender Kriegsgefahr als zentraleuropäischer Pufferstaat „neutralisiert“ werden sollte, taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder auf, wobei die Begriffe Neutralisierung und Neutralität nicht identisch sind und zeitgebundene Begriffsinhalte aufweisen. Karl Renner brachte das Vorbild Schweiz für die Reform der Habsburgermonarchie und zur Lösung der Nationalitätenkonflikte – zunächst bezogen auf die Innenpolitik – bereits 1902 ins Spiel. Wenige Jahre später, im langen Schatten der Annexion von Bosnien und der Herzegowina 1908, dehnte er im Jahr 1910 die Idee auf die außenpolitische Rolle aus. Die Donaumonarchie solle nichts anderes sein als „ein bescheidener Mittelstaat, neutral nach allen Richtungen, der sich in erster Linie der friedlichen Verfassungsarbeit im Inneren und vor allem der Wirtschafts- und Sozialpolitik widmet“.[1] Renner bezog sich dabei auf ältere Ideen des 1848er-Revolutionärs Adolf Ephraim Fischhof (1816–1893) aus dem Jahr 1869. Die Schweiz als innen- und außenpolitisches Vorbild geisterte ab nun immer wieder als anzustrebende österreichisch-ungarische Position in Europa in der politischen Auseinandersetzung herum. Zum Beispiel vertraten böhmische Sozialdemokraten wie František Modráček (1871–1960) ebenso die These, die Sozialdemokratie solle für eine Neutralisierung Österreich-Ungarns eintreten, um so die nationalen Konflikte im Inneren einzudämmen und das multinationale Staatsgebiet zusammenzuhalten. Im sozialdemokratischen Debatten-Organ „Der Kampf“ wurde diese Idee 1911[2] als undurchführbar zurückgewiesen.

Die Neutralisierungsidee wurde 1918 nach dem Ersten Weltkrieg und auf dem Weg zu den Friedensverhandlungen in Saint-Germain-en-Laye erneut von Bedeutung. Der gemäßigt-konservative Völkerrechtler Heinrich Lammasch (1853–1920), der Ministerpräsident der letzten kaiserlichen Regierung, die parallel zur republikanischen unter Staatskanzler Karl Renner bestand, hatte sie im November 1918 ins Spiel gebracht. Bereits 1915 griff er belgische Überlegungen zu einem „Bund der Neutralen“ auf. Er verfasste im März 1919 ein Memorandum, in dem die Neutralisierung der Republik Deutschösterreich im Stile der Schweiz unter dem Schutz der Entente-Staaten angeboten wurde. Die französische Seite hatte zuvor diese Idee ventiliert; Lammasch hatte einen neutralen Block mit einer Helvetischen und einer „Norischen“ Republik inmitten Europas im Blick. Die Neutralisierung spießte sich jedoch mit den (deutsch)österreichischen Anschluss-Wünschen ans republikanische Deutschland. Daher geriet diese Idee bei den Friedensverhandlungen ins Hintertreffen. Karl Renner reaktivierte sie 1920 erneut nach der Unvermeidlichkeit des „Anschlussverbots“ als mögliche österreichische Position zwischen West und Ost unter Schutz des Völkerbundes.

Als in Deutschland die NSDAP die Macht ergriff und Österreich so von zwei faschistischen Staaten umgeben war, tauchte die Neutralitätsidee wieder auf. Die Forderung der völkerrechtlichen Neutralisierung, um „die Republik dem Wettstreit der imperialistischen Grossmächte zu entrücken und dadurch erst eine enge wirtschaftliche Verbindung Oesterreichs mit den Nachbarstaaten“[3] zu ermöglichen, fand im Schatten der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland Eingang in die Parteitagsresolution der SDAP 1933, in der auch der „Anschlussparagraf“ gestrichen wurde.

[1] Stephan Verosta, Die österreichische Sozialdemokratie und die Außenpolitik. In: Erich Bielka / Peter Jankowitsch / Hans Thalberg (Hg.). Die Ära Kreisky. Schwerpunkte der österreichischen Außenpolitik (Wien/München/Zürich 1993) 23.

[2] Der Kampf, 1. März 1911, Jg. 4, Nr. 6, 282 f.

[3] Arbeiter-Zeitung, 17. Oktober 1933, Jg. 46, Nr. 287, 2.

Die Neutralitätsidee im befreiten und besetzten Österreich

Die Zukunft Österreichs nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die alliierten Truppen im April 1945 war offen. Pläne dafür gab es mehrere, jedoch waren sie nicht vordringliches Ziel der Siegermächte. In der innenpolitischen Debatte über Österreichs Zukunft rückten sofort das Narrativ ein „befreiter“ und kein „besiegter“ Staat zu sein und der Abschluss eines Staatsvertrages, um die vollständige Souveränität wiederzuerlangen, ins Zentrum. In ähnlicher Logik wie 1918/19 wurde der Begriff „Friedensvertrag“ vermieden, um auszudrücken, Österreich sei keine Kriegspartei, sondern von Beginn an Opfer der NS-deutschen Okkupationspolitik gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte man so bereits die Republik nicht als Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie erscheinen zu lassen – nun bezog sich diese Logik auf das „Dritte Reich“. 

Bereits am 5. April 1946 hielt Bundespräsident Karl Renner die wegweisende Grundsatzrede „Österreich, Saint-Germain und der kommende Friede“ vor der Österreichischen Liga für die Vereinten Nationen im Großen Musikvereinssaal. Darin reanimierte er als ranghöchster österreichischer Politiker als erster öffentlich die Idee der Neutralität. Er sagte: „Wegen dieser seiner Lage aber kann Österreich sich nicht einseitig, kann sich weder nach Osten noch nach Westen, weder nach Süden noch nach Norden wenden und politisch binden, ohne das Gleichgewichts dieser Interessen zu stören und selbst eine Wiederholung von 1914 und 1939 mit heraufbeschwören. Österreich ist in der ernsten und dennoch vielverheißenden Lage, keinen anderen Partner wählen zu dürfen als – die Organisation der Vereinten Nationen.“[1] In der weltpolitischen Lage des sich formierenden Ost-West-Konflikts sei das der einzig gangbare Weg. Diese Idee wurde schließlich auf dem Parteitag der SPÖ 1946 in eine Resolution gegossen und angenommen. Darin hieß es u. a.: „Die Sozialisten Österreichs stehen auf dem Standpunkte der absoluten Neutralität. Sie wollen, dass Österreich sich weder einem Ost- noch Westblock anschließt, sondern mit allem Nachdruck und Eifer bemüht ist, das Land von allen machtpolitischen Kombinationen fernzuhalten.“[2] Dass diese Vorstellung zwischen den entstehenden Machtblöcken zu stehen, wurde nach 1945 von weiten Teilen der Bevölkerung gutgeheißen. US-Umfragen in Österreich zeigten bereits 1947, dass die Frage „Strikte Neutralität, nach dem Muster der Schweiz?“ von 78 Prozent mit „wünschenswert“ beantwortet wurde. Zu betonen ist, dass in der republikanisch österreichischen Neutralitätsvorstellung, vor allem auch bei Karl Renner, im Unterschied zur Schweiz immer eine Beziehung bzw. Mitgliedschaft sowohl zum Völkerbund (Beitritt Dezember 1920) als zu den Vereinten Nationen miteingebaut war. Schließlich sollte Österreich bereits im Dezember 1955 Mitglied der UNO.

[1] Karl Renner, Österreich, Saint-Germain und der kommende Friede (Wien 1946) 23.

[2] Sozialistische Partei Österreichs, Parteitag 1946, 15., 16. und 17. Nov.  (Wien 1946) 233.

Teilungsängste und die Entstehung der Bündnisblöcke

Im Jahr 1947 verschärfte sich die Polarisierung zwischen Ost und West. Am 5. Juni wurde von Seiten der USA eine umfassende Wirtschaftshilfe für europäische Staaten angeboten, verkündet bei der berühmten Harvard-Rede des amerikanischen Außenministers George Marshall. Dabei sollte Österreich besonders begünstigt werden. Im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten, egal ob Verbündeter oder ehemaliger Feind, nur Österreich erhielt als besonders armes Land die Hilfe geschenkt („Grants“). Und als einziges Land, das teilweise unter sowjetischem Einfluss stand war es Teil des European Recovery Program (ERP). Das lag daran, dass Österreich als besonders armes Land galt und erneut wie 1918/19 als wirtschaftlich nicht lebensfähig angesehen wurde. Der Arbeitskräfte- und Rohstoffmangel waren wie die Kriegsschäden besonders groß. Und die historisch bedingte enge wirtschaftliche Verknüpfung mit Osteuropa war zunächst durch den Krieg und nun durch die sowjetische Einflusssphäre gekappt. Ebenso die große Zahl an Flüchtlingen und Displaced Persons führte zu ernsthaften Versorgungsproblemen. Es bestand die Sorge, dass ein mögliches ökonomisches Chaos das Land endgültig destabilisieren und einen kommunistischen Umsturz provozieren könnte.

Die NATO wurde im April 1949, die Bundesrepublik Deutschland in den drei westlichen Besatzungszonen wurde im Mai 1949 und die Deutsche Demokratische Republik in der sowjetischen Besatzungszone wurde im Oktober 1949 gegründet. Dem ging die Berlin-Blockade (Erste Berlin-Krise) voran; die Blockade West-Berlins durch die Sowjetunion vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949. Nachdem 1954 alle Versuche, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen, gescheitert waren, wurde der BRD signalisiert, dass ein NATO-Beitritt dringend erwünscht sei (der Beitritt wurde Oktober 1954 kundgetan und erfolgte Mai 1955). All das befeuerte in Österreich die Debatte über die eigene militärische Westintegration bzw. über den eigenen NATO-Beitritt. ÖVP-Außenminister Karl Gruber forcierte diese Idee ab 1948. Vor allem Großbritannien war skeptisch. Zum Beispiel äußerte sich auch SPÖ-Vizekanzler Adolf Schärf Ende 1949 vertraulich gegenüber dem französischen Ex-Premierminister Leon Blum derart, dass eine Integration in ein westliches Militärbündnis erst nach der Befreiung möglich sein könnte. Der größte Haken an diesen österreichischen Gedankenspielen des So-tun-als-ob war, dass keiner der beiden Blöcke Österreich völlig dem jeweils anderen überlassen hätte. Gleichzeitig befeuerten die Entwicklungen in Deutschland die Sorge um die Spaltung Österreichs erneut; vor allem jene Sorge, die westlichen Besatzungszonen könnten sich Richtung NATO abspalten oder die Angst vor dem sowjetischen „Niedergehen des Eisernen Vorhangs an der Enns“ (Bruno Kreisky). Die Spaltung wollte die UdSSR – auch entgegen bestehender Pläne der KPÖ – jedoch am wenigsten. Auch die USA wollte diese nicht, legten jedoch im „Umgang mit der Eventualität“ eine „gewisse Leichtigkeit“ (Gerald Stourzh und Wolfgang Mueller) an den Tag. In dieser geopolitischen Lage Österreichs erhärtete sich die Idee der „wie immer gearteten Sicherstellung Österreichs zwischen den Militärblöcken“ als die „relativ günstigste Zukunftsperspektive“ (Karl Renner 1949). Die Idee der politischen, „mentalen“ und ökonomischen Westorientierung, – die in der Bevölkerung und im politischen System tief verankert war – bei gleichzeitiger militärischer Neutralität, rückte ins strategische Zentrum. Schließlich schien die Neutralität die Lösung der so genannten „österreichischen Frage“ zu sein, eine Lösung, die vor allem die Sowjetunion dazu bewegte, endgültig einem Staatsvertrag 1955 zuzustimmen.

Nach dem die „immerwährende Neutralität“ 1955, nach dem Abzug aller Besatzungstruppen beschlossen wurde, entwickelte sie sich zum partei- und schichtübergreifenden Identitätsbrennpunkt eines österreichischen Nationalbewusstseins zwischen Kultur- und Staatsnation. Die „Neutralität“ ist somit, jenseits der Debatte über ihren sicherheits- und außenpolitischen Sinn, nicht einfach zu ersetzen.