Würdigung eines großen Denkers: Zum 10. Todestag von Kurt Rothschild
Der österreichische Ökonom Kurt Rothschild hat mit seinem Wirken Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nachhaltig geprägt. Insbesondere seine Zeit im Exil – als Sozialist jüdischer Herkunft musste Rothschild nach dem Einmarsch Hitlers aus Österreich fliehen – hat dazu beigetragen, dass Kurt Rothschild immer einen sozialen Anspruch an die als Wissenschaft betriebene Ökonomie gestellt hat. Mit der Vergabe des Kurt-Rothschild-Preises erinnern das Karl-Renner-Institut und der SPÖ-Parlamentsklub seit 2016 an diesen besonderen Wissenschafter.
Am 15. November jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal. Das nehmen wir zum Anlass, um Kurt Rothschild, sein Werk und sein Wirken zu würdigen.
Auch zehn Jahre nach seinem Ableben setzt das Leben und Werk von Kurt W. Rothschild Maßstäbe, an denen sich gegenwärtige und künftige Ökonom:innen messen müssen: Seine große theoretische Breite, seine empirische sowie methodische Stringenz und seine wirtschaftspolitische Weitsicht machen ihn zur zentralen Orientierungsfigur einer modernen Politischen Ökonomie, die versucht Wirtschaft und Gesellschaft konsequent zusammen zu denken.
Eine der zentralen Eigenschaften, die Kurt W. Rothschild als Person auszeichneten, ist die Bescheidenheit. Diese Bescheidenheit wirkte sich dabei stets auch auf seine wissenschaftlichen Tätigkeiten aus: Seine erkenntnistheoretische Fundierung, seine Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit, ökonomische Fragen allzu präzise zu beantworten, und seine Demut in Methodenfragen sind kennzeichnend für die (selbst-)kritische Attitüde Rothschilds, die sein wissenschaftliches Wirken nachhaltig prägte.
Die Politische Ökonomie sah Rothschild dabei als besonders herausforderndes Fach, das es – im Gegensatz zur standardökonomischen Analyse – erfordert, historische, institutionelle und politische Rahmenbedingungen mitzudenken und sich den zusätzlichen Komplexitäten, die dies mit sich bringt, auch auszusetzen. Aus Sicht von Rothschild war der Weg der Politischen Ökonomie also nur nicht der einsichtsreichere, sondern auch der schwierigere. Wir haben also Glück, dass Kurt W. Rothschild auch den Mut hatte uns hier voranzugehen und den Weg zu leuchten.
Verschmitzt meinte Kurt Rothschild immer wieder einmal, dass „das Einzige, was wir über Krisen sicher wissen ist, dass sie irgendwann vorbei sind.“ Tatsächlich hielt er ein tieferes Verständnis (ökonomischer) Krisen für enorm wichtig – für ein besseres theoretisches Verständnis, aber speziell auch für die richtigen wirtschaftspolitischen Reaktionen.
Krisen sind der entscheidende Anstoß für Paradigmenwechsel – in der ökonomischen Theorie wie in der Wirtschaftspolitik. Sie sind damit auch eine Chance, sich der Rothschild‘schen Vorstellung von „relevanter Ökonomie“ anzunähern und „die richtigen Fragen zu stellen“. Er wäre vermutlich nicht überrascht, dass sich die Welt in einer nun schon mehr als 10 Jahre andauernden Krise befindet. Die Krise nimmt „immer irgendwo ihren Ausgang“ und wenn sich der Paradigmenwechsel in Theorie und Politik nicht oder zu langsam vollzieht, so kann man ihr nur schwer entkommen.
Dass das fundamentale Problem in der strukturellen Fixierung der Ökonomie auf gleichgewichtige Modellwelten und – darauf basierend – der mangelnden Bereitschaft zu wirtschaftspolitischer Intervention liegt, hat er in seinen vielen Analysen des Ungleichgewichts als ökonomischer Normalzustand immer wieder dargelegt. „Ein bisschen hat die Wirtschaftspolitik ja vielleicht doch gelernt“, würde er in der aktuellen Situation möglicherweise sagen. Ob das bisschen aber genug ist, um z.B. der unvermeidlichen Normalität zukünftiger Ungleichgewichte besser begegnen zu können und die Welt etwas stabiler und gerechter zu machen, darf wohl trotzdem skeptisch gesehen werden.
In jedem Fall fehlt Rothschild als „weiser Ökonom“ – als der er schon zu seinen Lebzeiten bezeichnet wurde – heute mehr denn je!
In einem seiner letzten Interviews hat Kurt Rothschild gesagt: „Wenn man die Welt ändern will, muss man die Wirtschaft ändern.“ Das heißt: Wirtschaft und Wirtschaftstheorien dürfen niemals Selbstzweck sein, sondern müssen immer zum Ziel haben, unsere Gesellschaften besser und menschenwürdiger zu machen. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle erreicht. Das klingt einfach – und doch sind wir derzeit noch weit davon entfernt, sowohl in Österreich als auch international.
Gerade jetzt, in der größten gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Krise in der Geschichte der Zweiten Republik, haben die Worte Rothschilds große Aktualität. Denn die Corona-Krise trifft uns alle – gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial: Es gibt Rekordarbeitslosigkeit, Betriebe müssen schließen und ganze Familien stehen vor dem Nichts. Ungleichheit und Armut, die dadurch befördert werden, sind eine Gefahr für unsere Gesellschaft.
Der Staat braucht mehr Entschlossenheit, um vor allem die Krisenfolgen für den Arbeitsmarkt abzumildern und aktiv zu bekämpfen. Der Markt allein, so wie er derzeit funktioniert, kann all das nicht alleine regeln. Deshalb müssen wir alle Kräfte bündeln, um den verheerenden Folgen dieser Pandemie gegenzusteuern. Die Einsichten eines großen Denkers wie Kurt Rothschild können und sollen uns dabei unterstützen.
Ein Argument alleine – und mag es noch so gewichtig sein – verändert noch nicht das Leben der Menschen. In einer liberalen Demokratie erfolgt die Entscheidungsfindung nicht alleine durch Abwägen von pro und contra. Wir brauchen Weisheit, Strategie und Mut, wenn wir das wichtigste Fundament unserer liberalen Demokratie festigen wollen, nämlich das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit.
Jemand, der das im Bereich der Wirtschaftswissenschaft par excellence gelebt und geleistet hat, war Kurt Rothschild. Er hat immer versucht, ökonomische Theorie mit der Praxis zu verbinden. Er wusste, dass die Politik das wissenschaftliche Nachdenken braucht, aber ebenso wusste er, dass die ökonomische Theorie ohne wirtschaftspolitische Umsetzung wenig gesellschaftliche Relevanz findet. Vor allem aber hat er seine Anstrengungen darauf konzentriert, in der Wirtschaftswissenschaft Alternativen zum Mainstream zu entwickeln. Dieses Bemühen ist heute wichtiger denn je!
Deshalb zeichnen wir mit dem Kurt-Rothschild-Preis insbesondere jene Wissenschafter:innen aus, die sich nicht nur in den Erkenntnisgewinn, sondern auch in die öffentliche Debatte kontrovers einbringen. Die sich der Weisheit bedienen und gleichzeitig strategisch und mutig versuchen, breites Vertrauen für ihre Analysen zu gewinnen.
In Bezug auf Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Lebenshaltung sind Leben und Werk von Kurt Rothschild heute von unverminderter, ja steigender, Relevanz. In diesem Sinne: „Kurt Rothschild altert gut“!
Im Bereich der Wirtschaftstheorie wird nach langen Irrwegen nun wieder die Bedeutung einer makroökonomischen Gesamtbetrachtung auf keynesianischer Grundlage als zentral gesehen. In Rothschilds Spezialgebiet der Arbeitsmarktforschung wird nun von IMF und EU doch wieder entdeckt, dass Arbeitslosigkeit primär mit einem Mangel an kaufkräftiger Nachfrage zu tun hat und nicht nur „strukturell“ zu erklären ist. Kurt Rothschild hat dieses Wegdefinieren der makroökonomischen Perspektive schon 1978 in seinem bekannten Aufsatz „Arbeitslose – gibt’s die?“ kritisiert.
In der wirtschaftspolitischen Diskussion gewinnt die Rothschild‘sche Sicht an Bedeutung, dass wirtschaftliches Geschehen durch Ungleichgewichte und damit der Notwendigkeit staatlicher Intervention charakterisiert ist. Noch auszubauen ist freilich das Rothschild‘sche Forschungsprogramm in Bezug auf die Rolle von Macht- und Verteilungsfragen.
Als jemand, der das Glück hatte mit Kurt Rothschild als Assistent arbeiten zu können, erscheint es mir aber auch wichtig, auf die weiterführende Relevanz seiner „Lebenshaltung“ hinzuweisen. Kurt Rothschild kann als „role model“ eines progressiven Intellektuellen gesehen werden, der starke Leistungsorientierung mit ausgeprägtem sozialem Bewusstsein und tiefer Menschlichkeit verbindet.
Was ist Wirtschaft, wie funktioniert das Wirtschaftssystem? Will man diese Fragen ernsthaft beantworten, dann muss man sich vom öffentlichen Diskurs und medialen Mainstream ein gutes Stück entfernen und Zusammenhänge kritisch hinterfragen. Ökonomie ist letztlich keine Naturwissenschaft, sondern eine Sozialwissenschaft, die versucht, menschliche Entscheidungen, ihre rationalen Erwägungen und auch die irrationalen Beweggründe zu erforschen. Vor allem ist die Wirtschaftswissenschaft nicht frei von Interessen.
Betrachtet man die öffentliche wirtschaftspolitische Diskussion und mediale Berichterstattung, dann ist diese mehrheitlich vom (neoliberalen) Mainstream geprägt. Kurt Rothschild hat dies nie akzeptiert. Seine Sicht der Ökonomie ist eine breitere gewesen, die die aktive Rolle des Staates betont hat und die angebliche Selbstregulierung des Marktes anzweifelt. Rothschilds Sicht auf die Ökonomie war aber auch immer eine öffentliche, die sich in verständlicher Art der Bewältigung realer wirtschaftlicher Probleme und der Interessen der Vielen widmete.
Dank des nach Kurt Rothschild benannten Preises können wir ganz in diesem Sinne zeigen, dass es in der Welt der Ökonomie heute viele gute Forschungsansätze und Ideen gibt, die sich gegen den neoliberalen Mainstream stellen und diesen kritisch hinterfragen – vor allem aber, die sich in den öffentlichen Diskurs einmischen wollen.
Mit Kurt Rothschild kam ich zu Ende meines Diplomstudiums 1988 enger in Kontakt. Sein Lehrbuch „Ungleichgewichtstheorien“ bildete den Stoff für den Spezialisierungsteil der vierstündigen Klausur in Volkswirtschaftstheorie. Keine einfache Kost, doch man lernte für‘s Ökonom:innenleben: Marktwirtschaften sind nicht durch allgemeines Gleichgewicht, sondern durch Ungleichgewichte gekennzeichnet, die etwa in Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kommen.
Das war eine der besonderen Stärken Kurt Rothschilds: Die Fähigkeit, das wissenschaftliche und politische Anliegen der großen Ökonom:innen und ihrer Theorien wunderbar nachzuzeichnen und so den Nachwuchs für das Fach zu begeistern.
Ein paar Jahre später kam ich mit Herrn Rothschild dann und wann ins Gespräch, und zwar im Zeitungszimmer des WIFO oder bei den Veranstaltungen des BEIGEWUM. Fast noch mehr als sein immenses Fachwissen beeindruckten mich seine Bescheidenheit, Freundlichkeit und Beharrlichkeit. Denn er stellte nie sich selbst in den Mittelpunkt, sondern betrieb eine Ökonomie, die sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Zeit auseinandersetzt und einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen leisten will. Das ist „relevante Ökonomie“.
Kurt W. Rothschild hat uns Zeit seines Lebens nicht nur durch seine wissenschaftliche Brillanz, sondern darüber hinaus auch durch sein Wirken und Tun, durch seine Menschlichkeit schwer beeindruckt.
Geprägt durch seine Zeit im ‚Roten Wien‘ sowie im Exil in Schottland war er stets ein politisch hellwacher Mensch. So beschäftigte er sich in seinen Schriften durchaus mit politisch relevanten Fragen von Ökonomie und Gesellschaft. Dabei stand häufig auch die – durch die Globalisierung forcierte – Ungleichverteilung der Einkommen im Mittelpunkt seiner Analysen. Einen seiner letzten Beiträge (2009) betitelte er treffend „Geht’s den (Super-)Reichen gut, geht’s den Armen schlecht.“ Die Entwicklungen der letzten 10 Jahre haben ihm dabei leider nur zu sehr recht gegeben.
Rothschilds Werke haben generell kaum an Aktualität verloren. Wir sind daher äußerst froh, dass sein Nachlass an der WU Wien bestens aufbereitet der Öffentlichkeit nach wie vor zur Verfügung steht: http://www.kurt-rothschild.at/
Fotocredit Titelbild: Helga Allmer, Lizenz: CC BY-SA 3.0