Francesca Melandri
Der Preis für das publizistische Gesamtwerk wird an Francesca Melandri vergeben. Die in Rom geborene Schriftstellerin verarbeitet mit literarischer Präzision gesellschaftspolitische Themen und persönliche Geschichten zu komplexen und nuancierten Erzählungen. Sie verknüpft meisterhaft Schicksale aus Vergangenheit und Gegenwart mit historischen und aktuellen Ereignissen. In ihrem Roman „Alle, außer mir“ gelingt ihr dies besonders eindrucksvoll: Melandri verwebt den faschistischen Rassismus der 1930er-Jahre und die Geschichte der italienischen Besetzung Abessiniens 1935 mit den aktuellen Fluchtbewegungen aus Äthiopien sowie dem Leben einer vierzigjährigen Lehrerin in der Gegenwart. „Kalte Füße“ hingegen, ihr jüngstes Buch, verknüpft die Geschichte ihres Vaters als Soldat der italienischen Armee im 2. Weltkrieg in der Ukraine mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dabei geht sie davon aus, dass der von den Deutschen und Italienern geführte Russlandkrieg „in Wahrheit größtenteils ein Ukrainekrieg“ war.
Melandri sagte einmal über ihr Schreiben, dass sie sich dafür immer auf die Suche nach persönlichen, privaten Erzählungen, nach Momenten lebendigen oder gelebten Lebens mache und sehr vielen Zeitzeug:innen zuhöre. Das durchzieht spürbar ihr gesamtes Werk. Mit dieser Fähigkeit, das Vergangene im Gegenwärtigen und das Große im Kleinen erfahrbar zu machen, wurde sie in Bezug auf Geschichte eine Art literarisches Gewissen Italiens und hat sich als eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen europäischen Literatur etabliert.
Ihre Bereitschaft, eigene politische Positionen und Präferenzen kritisch infrage zu stellen, ist eine zusätzliche Quelle Melandris literarischer Größe. Die Schriftstellerin ist der Überzeugung, dass hinter einem guten Roman immer gute Fragen stehen. Das erhellt viele Facetten der Geschichte und macht differenzierte Fragen an eine nervöse und krisengeplagte Gegenwart transparent.