Die „realistische Utopie” eines europäischen Grundeinkommens
Die Policy Study „The European Basic Income – Delivering on Social Europe”, entstanden im Rahmen des Young Academics Network von Karl-Renner-Institut und FEPS, präsentiert einen neuen Vorschlag für ein europäisches Grundeinkommen und will damit einen differenzierten Beitrag zu einer kontroversiellen Debatte leisten. Die beiden Mit-Autoren Dominic Afscharian und Marius Ostrowski erzählen, wie sie gemeinsam mit ihren Kolleg:innen aktuelle Debatten zu diesem Thema aufgegriffen haben, wo sie Möglichkeiten der Umsetzung sehen und wo nicht, und was das mit der Idee einer europäischen Staatsbürgerschaft zu tun hat.
In eurer Studie beschäftigt ihr euch mit dem europäischen Grundeinkommen. Warum habt ihr euch dieses Thema ausgesucht?
Dominic: Der Ausgangspunkt war eine simple Feststellung: Das Thema Grundeinkommen kocht so oft hoch, wie kaum ein anderer sozialpolitischer Vorschlag, aber viele konkrete Vorschläge dazu haben uns nicht wirklich überzeugt. Es wird z.B. oft gefordert, den Sozialstaat komplett mit einem Grundeinkommen zu ersetzen. Nur, anstatt überzeugende Gegenvorschläge zu präsentieren, stehen viele progressive Akteur:innen eher am Rand der Debatte. Sie lehnen die Idee aufgrund sehr gut nachvollziehbarer Bedenken ab, was aber die Debatten zum Thema nicht aufhält. Und da haben wir das Risiko gesehen, dass die Popularität der Idee des Grundeinkommens irgendwann mangels Alternativen auf eine sozial problematische Weise umgesetzt wird. Entsprechend wollten wir einfach einen Alternativvorschlag entwickeln, der progressiven Idealen möglichst nahekommt. Damit wollten wir eine Basis schaffen, auf der progressive Akteur:innen kontrovers, aber konstruktiver an der Debatte teilnehmen können.
Marius: Anders könnte man fragen: Was hat einen Begriffshistoriker, einen Politikwissenschaftler, eine Soziologin und einen Philosophen dazu gebracht, zusammen eine Studie über so ein Thema zu schreiben? Das Schlagwort „Grundeinkommen“ ist schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten, sowohl eines der umstrittensten als auch eines der am häufigsten wiederkehrenden in den Debatten über die Sozialpolitik im europäischen Raum. Befürworter:innen einer bedingungslosen, allgemeingültigen, regelmäßigen Zahlung an alle Mitglieder einer Gesellschaft gibt es inzwischen auf allen Seiten des ideologischen Spektrums, von Ökosozialist:innen nach dem skandinavischen Muster bis zu libertären Fürsprecher:innen einer „negativen Einkommenssteuer“. Aber bislang ist die europäische Dimension dieser Debatte, also ein ausdrücklich auf der europäischen Ebene verwaltetes Grundeinkommen, weniger untersucht worden. Auch aus diesem Grund haben wir uns zusammengetan, um aus unseren verschiedenen Blickwinkeln ein gemeinsames Konzept davon zu entwickeln, wie ein logisch und empirisch begründetes europäisches Grundeinkommen aussehen könnte – und was seine politischen, ökonomischen und juristischen Voraussetzungen wären.
Ihr schlagt vor, dass es ein europäisches Grundeinkommen geben soll, als Ergänzung zu den nationalen sozialstaatlichen Leistungen. Wie könnte das genau funktionieren?
Marius: Das Kernkonzept unseres Vorschlags besteht in einer materiellen Widerspiegelung der gleichzeitigen europäischen und nationalen Staatsbürgerschaft. Das derzeitige Modell der europäischen Integration verortet sozialpolitische Kompetenzen hauptsächlich auf der nationalen Ebene. Wir betrachten unseren Vorschlag eines europäischen Grundeinkommens als eine wichtige und notwendige Erweiterung der sozialen Kompetenz auf der europäischen Ebene. Wichtig dabei ist, dass die EU die sozialpolitische Rolle der Mitgliedstaaten ergänzt, aber nicht ersetzt. Das europäische Grundeinkommen ist in letzter Instanz dafür da, sicherzustellen, dass alle Einwohner:innen der EU über die monetäre Basis verfügen, sich zu einem bestimmen Mindestniveau an allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen des Gesellschaftslebens beteiligen zu können. Das heißt natürlich nicht, dass die existierenden wohlfahrtsstaatlichen bzw. stärker umverteilenden Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht mehr gebraucht werden. Es bedeutet lediglich, dass den Staaten bei der Bewältigung der monetären Probleme ihrer Einwohner:innen von der europäischen Ebene aus mehr Unterstützung zukommt. Das europäische Grundeinkommen ist kein Allheilmittel, das alle gesellschaftlichen Probleme lösen soll. Es sollte eher als ein Pfeiler einer zukunftstauglichen europäischen Sozialpolitik verstanden werden.
Dominic: Bei der Gestaltung der konkreten Policy war unser Ausgangspunkt die Beobachtung, dass europäische Sozialpolitik nicht nur an den europäischen Verträgen scheitert, sondern auch an Ängsten der Nationalstaaten. Die meisten Maßnahmen gibt es schließlich auf Staatenebene schon und das erweckt oft die Sorge, dass eine europäische Maßnahme die nationalen Maßnahmen verdrängt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt es allerdings noch nicht in nationaler Variante und es wäre als soziale Dimension Europas für alle Bürger:innen ziemlich deutlich spürbar. Entsprechend schlagen wir vor, dass das Grundeinkommen direkt von der EU an alle volljährigen Bürger:innen gezahlt wird. Idealerweise würde der Betrag die Armutsschwelle erreichen, also 60% des jeweiligen Medianeinkommens. Ein paar Twists haben wir aber eingebaut. Zum Beispiel würde der Betrag in keinem Land unter 20% des EU-weiten Medianeinkommens fallen. Sonst bestünde das Risiko, dass es in den ärmsten Staaten zu niedrig ausfällt. Außerdem schlagen wir eine schrittweise, relativ langsame Einführung vor, damit man unerwarteten Nebeneffekten entgegenwirken kann. Das klingt erstmal ungewöhnlich, da ein Grundeinkommen ja emanzipatorisch wirken soll. Aber für die Ärmsten Europas sind schon kleinste Einkommenszugewinne von großem Wert und die Finanzierung ließe sich so einfach leichter organisieren. Und ja, auch Milliardäre hätten das Recht auf Zahlungen – hier haben wir uns aber etwas einfallen lassen, um möglichen Bedenken ein wenig entgegenzuwirken. Dafür verweise ich aber auf die Studie selbst. Wir wollen ja nicht alles vorwegnehmen.
Das Grundeinkommen ist politisch umstritten, wie ihr schon erwähnt habt gibt es gerade innerhalb progressiver Kreise sehr gegensätzliche Meinungen dazu. Gab es in eurer Arbeitsgruppe einen Konsens pro-Grundeinkommen, oder seid ihr auch skeptisch?
Dominic: Eine Mischung aus beidem – ein bisschen mehr Differenzierung täte manchen Diskussionen um das Grundeinkommen sicherlich gut. Wie eingangs gesagt: Viele Grundeinkommensvorschläge haben uns nicht überzeugt und wir sehen viele Risiken. Daher haben wir in unserer Studie auch möglichst viele Argumente gegen das Grundeinkommen zusammengefasst, denn eine unzureichend durchdachte Umsetzung kann eine Menge Schaden anrichten. Wir sind keine Befürworter eines Grundeinkommens um jeden Preis. Aber wir waren uns auch einig, dass die Idee an sich einiges Potenzial birgt und so schnell nicht wieder verschwinden wird. Man könnte also sagen: Es gab einen Konsens, dass man differenziertere Vorschläge braucht, die Sorgen ernst nehmen und Potenziale verwirklichen.
Marius: Zwar waren wir im Grunde genommen der Idee eines Grundeinkommens mehr oder weniger gewogen, aber unser Ziel war es nie, einseitige Propaganda für die Idee zu betreiben. Deswegen haben wir zuallererst sorgfältig die Argumente für und gegen ein Grundeinkommen gesammelt, bevor wir angefangen haben, unser Konzept zu konkretisieren. Dabei hatten wir durchaus auch unterschiedliche Standpunkte, so beispielsweise beim Thema der geographischen Differenzierung der auszuzahlenden Grundeinkommen, entweder zwischen EU-Mitgliedstaaten, oder zwischen Regionen. Ebenfalls kontrovers diskutiert haben wir das Portfolio der verschiedenen neu einzuführenden europäischen Finanzierungsquellen. Aber solche Meinungsunterschiede betrafen meist Details des Policy-Designs. Verbunden hat uns dabei vor allem ein kritischer Umgang mit den Argumenten, denen wir bei unserer Recherche begegnet sind – und ein progressiv geprägtes, aber realistisches Bild dessen, was die EU leisten sollte und aktuell leisten kann. Wir haben daher entsprechend unserer pragmatischen Auffassungen ein Modell konzipiert, das auf möglichst viele Einwände der Grundeinkommens-Kritiker:innen eine plausible Antwort anbieten kann.
Für wie realistisch haltet ihr es, dass euer Modell eines europäischen Grundeinkommens – oder so etwas ähnliches – in den nächsten Jahren eingeführt werden könnte?
Dominic: Es gibt viele Hindernisse, da machen wir uns keine Illusionen. Allen voran die europäischen Verträge und Widerstände der Mitgliedsstaaten. Wir schlagen ja praktisch eine direkte Umverteilung zwischen EU-Bürger:innen über die Nationalgrenzen hinweg vor. Dafür wären wahrscheinlich Vertragsänderungen nötig, die so bislang eher nicht in Aussicht stehen. Gleichzeitig haben wir unseren Vorschlag aber mit Elementen versehen, die ihn niedrigschwelliger umsetzbar machen. Da wäre zum Beispiel die langsame und schrittweise Einführung. In vielerlei Hinsicht erhoffen wir uns aus unserem Vorschlag also weniger eine direkte und passgenaue Umsetzung. Vielmehr geht es uns um einen Debattenanstoß und um einen differenzierteren Umgang mit der Grundeinkommensidee. Wahrscheinlich ist aber eben auch, dass die Debatte immer wieder hochkochen wird, zum Beispiel über das Pilotprojekt des DIW oder über die Konferenz zur Zukunft Europas. Bei der Zukunftskonferenz war ein europäisches Grundeinkommen einer der populärsten sozialpolitischen Vorschläge. Und wer es mit der Bürger:innenbeteiligung ernst meint, wird hierauf zumindest ernsthaft und ergebnisoffen eingehen müssen. Das heißt nicht, dass ein „klassisches“ Grundeinkommen umgesetzt werden muss. Aber Elemente unseres Vorschlags sind durchaus denkbar. Gerade die Flat-Rate-Rückzahlung einer EU-weiten CO2-Steuer an alle Bürger:innen hat hier viel Potenzial, die grundlegenden Prinzipien eines Grundeinkommens zu etablieren.
Marius: Mir gefällt das Schlagwort der „realistischen Utopie“. Das letztliche Ziel einer solchen liegt zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stehen die idealisierenden Erwartungen der Jetztzeit, die aufgrund des heutigen Verständnisses des Guten, des Richtigen, des Gerechten, einen normativen Fortschritt in der herrschenden Gesellschaftslage vorschlagen. Dem gegenüber steht die „echte“ Utopie nach dem Muster von Thomas More oder Edward Bellamy. Hierbei wird eine wunderliche, beinah außerirdisch unerkennbare Gesellschaftsalternative präsentiert, die sich mit dem heutigen Stand der Dinge vielleicht vergleichen lässt, aber sich nie als wirkliches Vorbild eignet. Wir streben mit unserem Vorschlag weder eine lediglich geringfügige Korrektur, noch ein vollkommen andersartiges Modell der europäischen Integration an. Die Voraussetzungen für die Einführung eines Grundeinkommens beruhen auf der schon längst etablierten Sachlogik der europäischen Verträge. Und die derzeitige Situation Europas—nach dem Brexit, nach Covid-19, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine—zeigt, dass die EU nicht nur eine neue Generation von Verträgen braucht, sondern auch inzwischen dafür einigermaßen reif geworden ist. Natürlich werden solche Verträge sich womöglich in erster Linie um Fragen der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik drehen. Aber wenn es zu Vertragsänderungen kommen sollte, darf die soziale Dimension der europäischen Innenpolitik dabei nicht vergessen werden. Und in dieser Hinsicht erweist sich das Konzept einer unter anderem durch ein europaweites Grundeinkommen materialisierten Staatsbürgerschaft als ein echtes „realistisch-utopisches“ Bild der europäischen Zukunft.
Ich danke euch für diese spannenden Ein- und Ausblicke. Eine letzte Frage noch: Wie habt ihr die Zusammenarbeit innerhalb des Young Academics Network erlebt?
Marius: Für mich war die Zusammenarbeit in unserer Arbeitsgruppe eine wahre Freude während der in vielerlei Hinsicht äußerst anstrengenden Zeit der Pandemie. Kurzgefasst: Ohne FEPS YAN hätten wir uns wohl nie in dieser Konstellation getroffen und meiner intellektuellen Entwicklung als Sozialwissenschafter, als Sozialforscher und als Sozialdemokrat hätte ein wertvoller Teil gefehlt. Unsere enge Zusammenarbeit hat aus uns nicht nur zufällig aufeinandergetroffene Kolleg:innen gemacht, sondern in uns eine solidarische, feste Freundschaft erweckt. Und selbstverständlich gilt das Gleiche auch für die breiteren Diskussionen, die wir während dieses FEPS YAN-Zyklus mit den anderen Mitgliedern geführt haben. Ich kann es neugierigen Interessent:innen nur empfehlen, sich für die zukünftigen Zyklen zu bewerben. Vielleicht treffen wir uns sogar mal dabei!
Dominic: Das Young Academics Network war außerdem auch eine gute Gelegenheit für uns, uns jenseits der Grenzen unserer sonstigen Forschung mit spannenden Themen zu befassen. Die Einblicke in die politische und politiknahe Praxis waren ebenfalls sehr hilfreich. Marius hat aber das wichtigste bereits gesagt: Wir haben in unserer Arbeitsgruppe Freundschaften geknüpft, die über das Network hinaus halten. Wir arbeiten übrigens weiterhin gemeinsam an Forschungsprojekten und hoffen auf weitere Ergebnisse in den kommenden Jahren.
Über die Personen
Dominic Afscharian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Tübingen. Seit seinem Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg hat er mit Think Tanks, Beratungen und akademischen Institutionen zusammengearbeitet und sich mit diversen Fragestellungen im Bereich der Public Policy auseinandergesetzt. Seine interdisziplinäre Forschung fokussiert sich auf europäische Sozialpolitik und ihr Verhältnis zu anderen Politikfeldern wie z.B. zu demokratischer Resilienz, Migrations- und Arbeitsmarktpolitik.
Marius Ostrowski ist Max Weber Fellow am Europäischen Hochschulinstitut und ehemaliger Examination Fellow in Politics bei All Souls College, University of Oxford. Seine Forschungsinteressen beziehen sich auf die Ideologiewissenschaft und die Theorie und Geschichte der Sozialdemokratie sowie der europäischen Integration. Er ist der Autor von Left Unity (2020) und Ideology (2022), und Herausgeber von den übersetzten Collected Works des sozialdemokratischen Denkers Eduard Bernstein (2018-). Er ist stellvertretender Redakteur des Journal of Political Ideologies, und redigiert das ihm angeschlossene Blog Ideology Theory Practice.