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Wie Gewerkschaften mit multiplen Krisen und Widersprüchen umgehen

Die Policy Study „Trade Unions and the multiple crisis of environment, society, economy and work“, entstanden im Rahmen des Young Academics Network von Renner-Institut und FEPS, analysiert am Beispiel einer Gewerkschaft in der Flugindustrie, wie ökologische, soziale und wirtschaftliche Krisen sich zueinander verhalten und welche Strategien Gewerkschaften im Umgang mit diesen Verhältnissen entwickeln (siehe dazu auch das Gespräch „Umbau der Autoindustrie: Arbeitsplätze vs. Umwelt?“ zwischen Gewerkschafter Rainer Wimmer und Politologe Ulrich Brand). Die beiden Mit-Autor:innen der Policy Study Halliki Kreinin und Niklas Kossow beschreiben, was sie herausgefunden haben.

In eurer Studie beschäftigt ihr euch mit Gewerkschaften. Welche gesellschaftliche Rolle und Bedeutung haben Gewerkschaften heute?

Niklas: Arbeiter:innenbewegungen aller Art – einschließlich der Gewerkschaften – waren und sind eine der größten emanzipatorischen Kräfte in der Geschichte. Um heute gegen viele gesellschaftliche Missstände vorzugehen, brauchen wir breite soziale Bewegungen und eine erneuerte Gewerkschaftsbewegung. Progressive Politik und gesellschaftliche Emanzipation manifestieren sich heute als Kampf für eine sozial-ökologische Transformation – und nicht alle Gewerkschaften nehmen diese Aufgabe an. Wir sehen, dass Gewerkschaften die vielfältigen Krisen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist – also ökologische, soziale, wirtschaftliche Krisen – auf ganz unterschiedliche Weise angehen. Es ist daher schwierig, über die Gewerkschaften als Ganzes zu sprechen.

Halliki: Einige Gewerkschaften haben ihre Ziele mit der Wirtschaft abgestimmt – das hat zwar für Arbeitnehmer:innen oft kurzfristige Vorteile, ist aber für die Gesellschaft insgesamt langfristig ebenso oft sehr problematisch. Andere Gewerkschaften denken durchaus darüber nach, welche weitreichenden Folgen es haben kann, wenn wir einfach „Business-as-usual“ weitermachen – sowohl für die Gesellschaft als auch für die Umwelt. Sie überdenken die Rolle der Gewerkschaften im Jahr 2022: Es kann nicht mehr nur darum gehen, höhere Löhne und mehr Konsum zu erkämpfen, und das außerdem nur für die wenigen Glücklichen, die einen normalen Arbeitsplatz haben. Wenn wir zurückblicken auf die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, dann ist es interessant zu sehen, wie viel breiter die Visionen und Ziele der Arbeiter:innenbewegungen damals waren: Freiheit im Sinne von Autonomie bei der Arbeit, Gemeinschaft, mehr Zeit mit der Familie, Begrenzung der Rolle und des Raums, den die Arbeit in unserem Leben einnimmt. Es scheint, als müssten wir zu einigen dieser frühen Ziele zurückkehren. Wir würden uns wünschen, dass die Gewerkschaften diese breiten Überlegungen darüber, was eigentlich ein gutes Leben ausmacht, wieder aufgreifen.

Ganz zentral ist in eurer Untersuchung die Klimakrise, und die Widersprüche die sich dadurch für gewerkschaftliche Arbeit ergeben. Worin bestehen diese Widersprüche?

Halliki: Das Problem ist, dass die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem derzeit Arbeit organisieren, nicht ökologisch nachhaltig ist, und außerdem auch noch sozial schädlich. Jüngsten Berechnungen zufolge wird die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens für Österreich bedeuten, dass fast ein Drittel (28%) der Arbeitsplätze gestrichen werden müssen. Viele dieser Arbeitsplätze liegen in Branchen mit hohen Löhnen und einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad – zum Beispiel in der Autoindustrie. Um das sozial gerecht zu gestalten, brauchen wir einen umfassenden sozial-ökologischen Umbau. Wir müssen die Wirtschaft so gestalten, dass sie nicht mehr auf Wachstum ausgerichtet ist, sondern auf Gemeinwohl und Wohlbefinden der Menschen.

Niklas: Für Gewerkschaften bedeutet so ein sozial-ökologischer Umbau, gegen die tatsächlichen materiellen Interessen einiger Arbeitnehmer:innen vorzugehen. Und sie müssen sich wieder an den ursprünglichen Zielen der Gewerkschaften orientieren – also an der Emanzipation der Arbeitnehmer:innen, nicht an Konsum und Verschwendung als „das gute Leben“. In unserer Gesellschaft hängen Wohlstand und Sicherheit vom Arbeitsplatz ab, und die Gewerkschaften wurden gegründet, um für die Interessen der Arbeitnehmer:innen zu kämpfen. Das bringt Gewerkschaften in eine existenziell schwierige Position.

Ihr untersucht die Aktivitäten einer Gewerkschaft in der Flugindustrie, wo diese Widersprüche ja sehr offensichtlich werden können. Wie gehen Gewerkschaften damit um?

Halliki: Der Luftfahrtsektor ist ein interessantes Beispiel, weil wir hier sehr deutlich sehen, welche unterschiedlichen Strategien die Gewerkschaften entwickeln, um mit den vielfältigen Krisen umzugehen. Der Luftfahrtsektor ist erstens umweltschädlich und muss daher radikal verkleinert, sowie durch Biokraftstoffe und Technologie umweltfreundlicher gestaltet werden. Zweitens ist dieser Sektor auch berüchtigt für schreckliche Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und Schikanen von Arbeiter:innen. In unseren Beispielen sehen wir, wie Gewerkschaften mit diesen Krisen auf unterschiedliche Weise umgehen und dabei mit unterschiedlichen Narrativen arbeiten: Einerseits versuchen sie, europaweit Solidarität aufzubauen. Andererseits kooperieren sie eng mit ihren Unternehmen, um bessere Bedingungen für ihre Mitglieder in ihren Ländern zu sichern. Einige ignorieren die Umweltkrise völlig, um Verschlechterungen von Löhnen und Arbeitsbedingungen aufzuhalten. Andere nehmen die Herausforderung der Umweltkrise an, und sehen durchaus, dass der Sektor verkleinert werden muss. Sie setzen sich für einen umfassenderen Wandel und einen gerechten Übergang für die Beschäftigten in der Luftfahrt ein. All diese unterschiedlichen Vorgehensweisen machen den Luftverkehrssektor zu einer spannenden Fallstudie.

Wie habt ihr die Zusammenarbeit innerhalb des Young Academics Network erlebt?

Niklas: Es war eine herausfordernde, aber lohnende Erfahrung. Herausfordernd war sie natürlich auch deshalb, weil wir uns aufgrund der Corona-Pandemie fast nur online treffen konnten. Das Netzwerk hat es uns ermöglicht, verschiedene politische Akteur:innen von Bewegungen in ganz Europa kennenzulernen, mit ihnen zu sprechen und manchmal auch zu streiten. Darunter waren Schlüsselfiguren der europäischen und nationalen politischen Landschaft und der sozialdemokratischen Familie. Die Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, sind auch in unseren Bericht eingeflossen. Wir möchten alle Interessierten ermutigen, beim Young Academics Network mitzumachen!

Über die Personen

Halliki Kreinin arbeitet als Postdoc am dem 1.5°-Lebensstile Projekt an der Uni Münster. Sie hat im Jänner 2022 am Institute for Ecological Economics der WU Wien ihren PhD in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der sozial-ökologischen Transformation, nachhaltiger Arbeit und der Postwachstumsgesellschaft. Halliki ist ein Gründungsmitglied von Degrowth Vienna, einem Netzwerk von Akademiker:innen und Aktivist:innen die sich für ein gutes Leben für alle einsetzen.

Niklas Kossow ist Projektmanager beim CityLAB Berlin, einem öffentlichen Innovationslabor, gefördert von der Senatskanzlei Berlin. Niklas ist promovierter Politikwissenschaftler und hat 2020 seine Doktorarbeit über den Nutzen von digitalen Technologien in der Bekämpfung von Korruption an der Hertie School verteidigt. Zu diesen Themen hat er verschiedene Organisationen beraten, unter anderem die GIZ, Transparency International und Freedom House.