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Buchpräsentation mit Emma Dowling: „Krise der Pflege. Ursachen und Lösungen.“

In dieser Lunch Lecture präsentierte Emma Dowling, Soziologie-Professorin an der Universität Wien, ihr neues Buch „The Care Crisis. What Caused It and How Can We End It?“. Sie beschäftigt sich mit dem Wesen der Fürsorge in der modernen Welt und zeigt am Beispiel von Großbritannien, welche verheerenden Auswirkungen eine Politik der Kürzungen und Privatisierung öffentlicher Leistungen auf den Pflegesektor hat.

We need a Care Fix

Die Krise der Pflege in Großbritannien sichtbar machen: Das war das Anliegen, mit dem Emma Dowling 2015 begonnen hat, dieses Buch zu schreiben. In ihren Analysen bezog sie sich dabei vor allem auf die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008. Als sie 2019 mit dem Buch fertig war, hatte nach mehreren Jahren Brexit-Drama auch die Corona-Krise begonnen. Das verschärfte den Druck auf den Pflegebereich und die Erschöpfung gesellschaftlicher Care-Ressourcen weiter – und machte den Blick auf Lösungen für die Krise der Pflege nochmal deutlich dringlicher.

Ein zentraler Begriff im Buch ist der „Care Fix“. Damit benennt Dowling kurzfristige und sogar destruktive Versuche, die Care-Krise zu lösen. Das englische Wort „Fix“ dient hier als Ausdruck einerseits dafür, etwas zu reparieren („to fix something“) und andererseits für Suchtmittel („to get a Fix“), also für kurzfristige Schmerzlinderung bei gleichzeitig langfristiger Verdrängung – und somit Verschärfung – von Problemen. „Care Fix“ beschreibt, wie in Großbritannien Problemen im Pflegesystem begegnet wird.

Besonders eindrucksvoll illustriert das Dowling anhand des „Social Impact Investing“ – einem Finanzierungsinstrument, das in seiner Verzerrung und Verformung menschlicher Verhältnisse an dystopische Gesellschaftsentwürfe erinnert. Private Investor:innen finanzieren dabei innovative Projekte im sozialen und wohlfahrtsstaatlichen Bereich. Wenn die Projekte ihre – im Vorhinein definierten – Ziele erreichen, dann bekommen die Investor:innen von der öffentlichen Hand ihr Geld zurück, plus einer Prämie von bis zu 30 Prozent der Investitionssumme. Die ersten Weichen für Impact Investing wurden schon 2010 gestellt, noch unter einer Labour-Regierung. Vorerst, so Dowling, ist Impact Investing noch als Experiment zu betrachten, es beschreibt noch nicht umfassend den Zustand in Großbritannien. Aber es veranschaulicht besonders deutlich die Logiken, die hinter den Reformen des Pflegesektors stehen.

Erstens: Die erklärte Absicht von Impact Investing ist es, die Kosten für Sozialleistungen zu reduzieren; Zielgruppen sind überwiegend benachteiligte Bevölkerungsgruppen und arme Gegenden. Gerade jene Bevölkerungsgruppen und jene Gegenden also, die durch jahrelange Kürzungspolitik am meisten unter Druck gesetzt wurden, werden hier als gesellschaftliche Probleme dargestellt, als Belastung öffentlicher Budgets – und diese Belastung soll reduziert werden.

Zweitens: Ob die Investor:innen aus den Projekten Gewinne erzielen, hängt davon ab, ob die Projekte erfolgreich waren. Um das zu bestimmen, braucht es Maßzahlen: Skalen für Einsamkeitsgefühl und Wohlbefinden, Bauchumfang und Blutzuckerspiegel, Schulbesuch und Lernerfolge. Diese Maßzahlen sind es dann, die reduziert oder erhöht werden sollen, anstatt die eigentlichen Probleme anzugehen. Bei einem Projekt zu Obdachlosigkeit beispielsweise geht es dann nicht darum, soziale Missstände wie mangelnden Wohnraum, hohe Mieten, Gentrifizierung und Armut zu bearbeiten – sondern darum, irgendwie die Obdachlosen wegzubekommen, wenn nötig auch durch Abschiebung.

Zwar ist das Sozial- und Gesundheitssystem in Österreich nicht in dem Ausmaß privatisiert wie in Großbritannien. Das Sozialversicherungssystem funktioniert anders, und der Sozialstaat insgesamt ist noch stärker und dichter ausgebildet. Aber: Erstens gibt es auch in Österreich einen Pflegenotstand (siehe dazu auch das Gespräch zwischen Barbara Prainsack und Birgit Gerstorfer zum Thema Pflege); zweitens ist anlagesuchendes Kapital immer an neuen Märkten interessiert; drittens kann Großbritannien als Labor für Politiken gesehen werden, die dann auch anderswo umgesetzt werden. „Es sei denn, wir tun etwas dagegen“, so Dowling.

Geld allein wird den Pflegenotstand nicht lösen, wenn es dazu verwendet wird, Profite und Renditen zu stützen.

Warum sind diese Care Fixes überhaupt nötig? Als Ursachen der Krise beschreibt Dowling eine Kombination von Austeritätspolitik und Privatisierung und liefert eine umfassende Beschreibung der Auswirkungen auf den Pflegesektor.

Die Austeritätspolitik des vergangenen Jahrzehnts in Großbritannien bestand aus massiven Kürzungen von Sozialhilfe, was viele Menschen (tiefer) in Armut stürzte, sowie aus Kürzungen bei kommunalen Budgets. Die Kommunen sind auch in Großbritannien zuständig für soziale und pflegerische Dienste. In den letzten zehn Jahren mussten sie Budgetkürzungen von unfassbaren 60 Prozent in Kauf nehmen. Die erwünschten Kosteneinsparungen sind dabei allerdings keine wirklichen Einsparungen; die Kosten fallen dann einfach woanders an: Wenn etwa ältere Menschen es sich nicht leisten können, sich an einen Pflegedienst zu wenden, bleibt ihnen vielleicht nichts anders übrig, als in die Notaufnahme zu gehen – dort gibt es dann ein höheres Aufkommen an Patient:innen.

Zusätzlich zu dieser Kürzungspolitik wurde die britische Wirtschaft zunehmend auf den Finanzsektor ausgerichtet, was Dowling mit dem Begriff der Finanzialisierung beschreibt. Durch Reformen in wohlfahrtsstaatlichen Bereichen, etwa dem Pflegesektor, holt die Politik die Finanzindustrie aktiv in diese Bereiche herein und schafft Möglichkeiten für private Profite. Wenn also immer mehr Teile des Pflegesystems privatisiert werden, dann ist das damit verbunden, dass hier auch die Profitlogik an Bedeutung gewinnt – die Erwartung zukünftiger Profite ist es ja, die private Investor:innen dazu bewegt, in diesen Bereich zu investieren. Private Gewinne im Pflegesektor werden ermöglicht durch öffentliche Subventionen – in anderen Worten: Öffentliche Gelder werden in private Gewinne verwandelt, die ohnehin schon knappen Ressourcen werden in Form von Profiten aus dem Sektor abgezogen.

Diese Kombination von Austeritätspolitik und Privatisierung ist besonders problematisch, denn: „Es reicht nicht aus, gegen Sparmaßnahmen zu sein, und einfach nur mehr öffentliche Ressourcen zu fordern. Geld allein wird diesen Pflegenotstand nicht lösen, wenn es dazu verwendet wird, Profite und Renditen zu stützen.“

Indienstnahme von Verantwortung und Mitgefühl

Es müssen also aufgrund von Austeritätspolitik Kosten eingespart, und aufgrund von Privatisierung Gewinne ausgeschüttet werden. Das ist im Pflegebereich nochmal schwieriger als in anderen Bereichen, da es hier einen sehr geringen Spielraum für Effizienzsteigerungen gibt, also für gleiche Leistung mit weniger Aufwand: „Die Verwandlung von Sorge-, Betreuungs- und Pflegedienstleistungen in Waren stößt an Grenzen, weil diese Tätigkeiten und die sozialen Beziehungen, auf denen sie basieren, Zeit brauchen und daher nicht unendlich rationalisierbar sind.“

Mit klaren Worten schildert Dowling die Konsequenz dieser Entwicklungen: Einsparungen und Gewinnausschüttungen gehen auf Kosten der Pflegekräfte, mit verschlechterten Arbeitsbedingungen und niedrigeren Löhnen, sowie auf Kosten der Pflegebedürftigen, wenn Umfang und Qualität der Versorgung reduziert werden.

Um die Einschnitte halbwegs zu kompensieren, leisten Pflegekräfte Überstunden, Freiwillige springen ein, und Pflegearbeit wird wieder in private Haushalte verlagert, also vor allem in die unbezahlte Arbeit von Frauen – was wiederum tradierte Geschlechter- und Klassenverhältnisse aufrecht erhält und vertieft. Mitgefühl und Pflichtgefühl werden ausgenutzt, um trotz Sozialkürzungen und Privatisierung den Pflegebedarf zu stillen. Die gesellschaftlichen Care-Ressourcen sind allerdings auch endlich; in ihrer Erschöpfung besteht die Krise der Pflege.

Fürsorgebasiertes Gesellschaftsmodell

Dabei, so betont Dowling immer wieder, sind es gerade Pflege- und Sorgetätigkeiten, die überhaupt erst Gesellschaft und Wirtschaft ermöglichen, die die Bedingungen für menschliches Leben schaffen, die systemrelevant sind – und zwar immer, nicht nur in Pandemiezeiten (siehe dazu das Gespräch zwischen Katharina Mader und Korinna Schumann zu Frauen und Corona). Diejenigen, die diese Arbeit machen, produzieren einen unschätzbaren Wert für menschliches Zusammenleben. Sowohl das sich-Kümmern als auch das umsorgt-Werden sind menschliche Grundbedürfnisse. Wenn all das anerkannt und wertgeschätzt würde: Wieviel Kraft läge in dieser Erkenntnis für die Formulierung progressiver Gesellschaftsentwürfe?

Die Bedeutung dieser Erkenntnis geht jedenfalls weit über den Bereich Pflege hinaus. Sie findet sich wieder in der Nachhaltigkeitsdebatte: Die Wirtschaftsform des Kapitalismus, gekennzeichnet durch ständige Expansion und Profitstreben, vernichtet langfristig ihre eigenen Lebensgrundlagen – sowohl in Form von Umweltzerstörung, als auch im Aufbrauchen der gesellschaftlichen Care-Ressourcen. Und die Erkenntnis ist verknüpft mit Debatten zu globaler Gerechtigkeit: Teile der Gesellschaft (Haushalte) und Teile der Welt (ehemalige Kolonien) sind nicht abgetrennt von kapitalistischer Produktion, sondern ermöglichen sie erst durch ihre unbezahlte Arbeit und Ressourcen.

Diese Erkenntnis, dieses Zusammendenken ist wichtig, aber: „Ich glaube nicht, dass wir alleine mit einer Anrufung für Fürsorglichkeit diese Probleme beheben. Sondern wir müssen wirklich auch schauen, wie wir die strukturellen Bedingungen verändern.“ Es braucht also nicht nur Sichtbarkeit, Anerkennung, Wertschätzung, sondern auch materielle Änderungen: Bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne. Eine Umverteilung der informellen und unbezahlten Reproduktionsarbeit, sowie eine Arbeitszeitverkürzung um mehr Zeit für diese Arbeit zu haben. Und es braucht eine Abkehr von Privatisierung und Profitlogik, die aus diesem Bereich Ressourcen abziehen.

Zur Autorin

Emma Dowling ist Assistenzprofessorin für Soziologie Sozialen Wandels am Institut für Soziologie der Universität Wien. Sie lehrte und forschte in London an der Middlesex University und der Queen Mary University, sowie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, unter anderem im Rahmen des DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind sozialer Wandel, feministische politische Ökonomie, sowie Finanzialisierung und öffentliche Daseinsvorsorge.

Leseempfehlung

„The Care Crisis. What Caused It and How Can We End It?“, Emma Dowling (Verso, 2021)