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Judith Kohlenberger: Courage – Mut zur Menschlichkeit

Sowohl in ihrer wissenschaftlichen Forschung, als auch in ihrem öffentlichen Engagement geht es Judith Kohlenberger darum, Mythen und Vorurteilen etwas entgegenzusetzen und das Bild von Migration zu prägen: als festen Bestandteil menschlicher Gesellschaften und vor allem als Quelle von Innovation und Weiterentwicklung. Im Interview erzählt sie von den Fortschritten der Initiative „Courage“, ordnet Migrationspolitik auf nationaler und europäischer Ebene ein, und bietet Einblick in ihre aktuellen Forschungsergebnisse.

Mitte September präsentierte Judith Kohlenberger (Wirtschaftsuniversität Wien) als Teil eines fünfköpfigen Teams die Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ mit dem Ziel, sichere Plätze für Geflüchtete in Österreich zu schaffen. Seit Jahren forscht sie zu den Themen Fluchtmigration und Integration, 2019 wurde sie dafür mit dem Kurt-Rothschild-Preis ausgezeichnet.

„Unser Ziel ist nicht Chaos, sondern ganz im Gegenteil: Unser Ziel ist es, das Chaos auf Lesbos zu bekämpfen.“

Mit der Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ sagt ihr: Das Ziel ist es, Menschen aus den Flüchtlingslagern in Griechenland in Sicherheit zu bringen. Ihr wollt nur das „Okay“ von der Bundesregierung; um die Unterbringung, Versorgung und gesellschaftliche Integration dieser Menschen kümmern sich dann zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Politik.

Kohlenberger: Genau – im Grunde geht um die Erlaubnis, helfen zu dürfen. Wir haben uns die symbolische Zahl von 144 gegeben, die Nummer des Rettungsnotrufs. Es geht uns bewusst um 144 „Leben“, weil sich der Anspruch auf Schutz nicht nur auf Minderjährige beziehen darf. Wir sind der Meinung, Solidarität ist unteilbar. Und vor allem wollen wir zeigen: Österreich hat Platz! Es gibt einige leerstehende Grundversorgungseinrichtungen, deren Miete noch Jahre weiterläuft und vom Bund gezahlt wird, die aber nicht gebraucht werden, weil derzeit nur sehr wenige Asylanträge gestellt werden.

Ihr ruft mit der Initiative auch zu Geld-, Zeit- und Sachspenden auf.

Kohlenberger: Und es melden sich immer mehr Menschen. Wir haben bereits jetzt Plätze für 144 Geflüchtete – und sogar noch mehr. Es melden sich sowohl Privatpersonen, als auch Vereine und Organisationen.

Darin zeigt sich die Bereitschaft vieler Menschen, etwas Sinnvolles zu tun, solidarisch zu sein. Viele haben zwar die Mittel, sehen aber nicht oft die Gelegenheit dazu.

Kohlenberger: Diejenigen, die sich 2015, im Sommer der Migration, engagiert haben, konnten die unmittelbare Wirksamkeit des Helfens so gut erleben. Natürlich kann man in Österreich jederzeit an unterschiedliche Hilfsorganisationen spenden. Aber 2015 gab es die Möglichkeit für unmittelbaren, persönlichen Austausch. Da bekommt das Helfen eine direkte Wirksamkeit, die man sonst selten spürt. Das hat dann viele positiv bestärkt darin, weiter zu tun.

Bei Courage arbeitet ihr gerade an einer Landkarte der sicheren Plätze.

Kohlenberger: Auf dieser Landkarte soll man sehen, wo es überall Plätze für geflüchtete Menschen gibt. Wichtig ist uns auch, dass es nicht nur um Betten geht, sondern dass auch die notwendigen Ressourcen da sind, um diese Menschen engmaschig betreuen zu können. Es geht uns um eine geregelte, kontrollierte Form der Aufnahme. Unser Ziel ist nicht Chaos, sondern ganz im Gegenteil: Unser Ziel ist es, das Chaos auf Lesbos zu bekämpfen.

Welche Reaktionen bekommt ihr aus der Politik?

Kohlenberger: Es stehen einige Bürgermeister dahinter, und zwar fast jeder Couleur. Oft kommt ja der Zuspruch für die Aufnahme von Geflüchteten genau von dort, wo die Integration dann passieren muss: vor Ort, in den Gemeinden, auf regionaler Ebene. Es gibt sogar Bürgermeister, die Fotos von leerstehenden Zimmern schicken. Das ist ein deutliches Signal: „Alles steht bereit, ihr müsst uns nur mehr die Menschen schicken.“ Vonseiten der Bundesregierung sind an mich noch keine konkreten Reaktionen auf unsere Initiative herangetragen worden. Dennoch wurde natürlich deutlich öffentlich kommuniziert, wie ihre Position zur Aufnahme Geflüchteter aus den griechischen Lagern ist.

Kohlenberger: Erstens weil ich die Möglichkeit und die Ressourcen dazu habe. Da sind wir wieder beim Thema ökonomische Auslese. Ich weiß, wenn es finanziell schwierig werden würde, könnte ich mich auf meine Eltern verlassen. Das ist der sprichwörtliche „golden parachute“, auf den man zurückfallen kann: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die den nicht haben, steigen viel früher aus dem Wissenschaftsbetrieb aus, weil die Karriereverläufe so unsicher sind. Damit setzt sich genau diese Bildungsungleichheit weiter fort. Und zweitens sehe ich es auch als Teil meiner Verantwortung, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen, gerade weil ich an einer öffentlichen Uni arbeite, aus Steuergeldern finanziert. Wenn ganz eindeutig Unwahrheiten über Migration oder Migrant:innen verbreitet werden, juckt’s mich so, dass ich einfach Stellung beziehen muss. Da ist mir manchmal das Tempo in der Wissenschaft zu langsam. Manchmal muss man jetzt was sagen, weil es jetzt brennt – im Fall von Moria leider wortwörtlich.

Ihr formuliert euer Angebot auch als Charaktertest an die Politik: Wenn die Regierung kein grünes Licht gibt, zeigt sie ihr wahres Gesicht.

Kohlenberger: Einer Partei, die sich rechts der Mitte definiert, gestehe ich ja zu, dass ihr Ordnung und Sicherheit wichtig ist und sie diese Werte auch nach außen hin betont. Genau das ist aber in der jetzigen Situation das Absurde: Indem man Zelte und Decken nach Lesbos schickt, schafft man überhaupt keine nachhaltige Sicherheit, ganz im Gegenteil. Das abgebrannte Lager Moria wurde in Kara Tepe neu errichtet und sieht aus wie ein Gefängnis, inklusive Stacheldraht. Die Menschen dort haben kein Vor und kein Zurück: Die EU will sie nicht verteilen, die Türkei nimmt sich nicht zurück, und in ihre unsicheren Herkunftsländer können sie auch nicht zurückkehren. Die österreichische „Hilfe vor Ort“ wirkt ein wenig so, als wolle man nur den Druck im Kessel erhöhen. Sicherheit und Ordnung schafft man damit jedenfalls nicht. Jetzt wäre nämlich der Zeitpunkt, wo das noch möglich ist: Menschen auf geregelte, geordnete Weise zu registrieren und aufzunehmen. Allein die Dimensionen sind ja absolut machbar: Wir reden von 13.000 Menschen in Moria.

Es gibt also genug Plätze, alles kann geregelt und kontrolliert ablaufen, vor ist Ort der politische Wille da. Das sind ja gute Voraussetzungen. Denkst du, dass die österreichische Bundesregierung der Aufnahme Geflüchteter zustimmen wird?

Kohlenberger: Das hängt auch davon ab, was auf europäischer Ebene passiert. Letzte Woche wurde der EU-Migrationspakt vorgestellt, und seitdem bin ich leider wieder pessimistischer. Der Migrationspakt macht vor allem an jene Staaten starke Zugeständnisse, die aufnahmeskeptisch sind. Das Ergebnis ist ein Minimalkonsens und  wenig Visionäres, das signalisieren würde: Das ist die EU, dafür stehen wir, das sind unsere Menschenrechte und Grundrechte, die unverrückbar bleiben müssen. Das Wort „Schutz“ kommt immer nur im Zusammenhang mit „Grenzen schützen“ vor, nicht als „Menschenleben schützen“. Der gesamte Migrationsdiskurs hat sich durch diesen Pakt meiner Einschätzung nach wieder ein Stück nach rechts verschoben.

Woran liegt das?

Kohlenberger: Es wird oft behauptet, dass das Migrationsthema auf EU-Ebene gelöst werden muss. Und das stimmt natürlich – aber die EU, das sind wir alle. Es gibt wohl einige EU- Mitgliedstaaten, deren Nationalregierungen im Grunde gar kein Interesse daran haben, die Migrationsfrage der EU zu lösen, weil sie auf nationaler Ebene damit Wählerstimmen generieren: Ungarn zum Beispiel, und auch die anderen drei Visegrád-Staaten. Die Frage, die sich jetzt für uns in Österreich stellt, ist: Wo reihen wir uns ein? Reihen wir uns in diese Gruppe ein, oder möchten wir vielleicht doch eher zur Gruppe der Retter und Aufnehmenden gehören? In den letzten Jahren hat Österreich hier kaum positive Impulse gesetzt. EU-Migrationspolitik ist oft nur Sicherheitspolitik, der Schutz von Schutzsuchenden scheint zweitrangig.

„Was meinen wir denn, wenn wir Migrationshintergrund sagen? Im Grunde meinen wir damit Klasse. Das sagt aber niemand. Sondern wir behaupten, der Islam wäre das Problem.“

Die Bundesregierung argumentiert auch mit Push- und Pull-Faktoren, also dass man als mögliches Zielland für Migrant:innen nicht zu attraktiv werden will, um das Schlepperwesen nicht zu unterstützen.

Kohlenberger: In der Migrationsforschung wissen wir mittlerweile, dass das Push-Pull-Modell ein überholtes Modell ist, das die Komplexität von Migrationsentscheidungen nur sehr bedingt abbilden kann. Es gibt viele verschiedene Faktoren, die letztlich zu der Entscheidung führen, ob jemand flüchtet oder nicht. Der Hauptgrund dafür, dass das Schlepperwesen weiter besteht, ist, dass es keine legalen Fluchtmöglichkeiten gibt. Denn die Fluchtursachen bestehen ja weiter, egal wie sehr sich die EU abschottet, und durch die Klimakatastrophe werden Fluchtgründe eher zu- als abnehmen. Wenn man in den Mauern, die die EU fortwährend errichtet, keine Türen lässt, dann stauen sich Migrationsströme an. Dann werden Menschen eben „irreguläre“ Wege finden, um einzureisen. Die Strategie, „nicht attraktiv sein“ zu wollen, funktioniert ja nicht: Griechenland setzt seit Jahren auf Abschreckung, und trotzdem kommen immer noch Geflüchtete an. Wenn ein Staat wirklich unattraktiv werden will für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, dann müsste man im Grunde die Rechtsstaatlichkeit, das Wohlstandsniveau und die Bildungschancen drastisch herunterfahren. Das Push-Pull-Modell übersieht all das und verdeckt gleichzeitig tatsächliche Lösungsansätze – an denen man aber offenbar gar nicht interessiert ist.

Was meinst du damit?

Kohlenberger: Der Integrations- und Migrationsdiskurs wird hierzulande sehr defizitär geführt. Man schaut vorrangig auf Defizite und Problemlagen, überhaupt nicht auf Ressourcen. Unterschiedliche Themen und Problemlagen werden völlig grundlos ethnisiert und religionisiert. Zum Beispiel der mangelnde Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund: Der ist natürlich vor allem auf die generell starke Bildungsvererbung in Österreich zurückzuführen. Aber was meinen wir denn eigentlich, wenn wir von „Migrationshintergrund“ sprechen? Da denkt niemand an den Kanadier, der bei der UNO arbeitet. Denn im Grunde meinen wir damit „Klasse“. Das sagt aber niemand. Sondern wir behaupten, der Islam wäre das Problem. Nun kann aber der Islam reichlich wenig dafür, dass zum Beispiel Kinder aus türkischen Familien oft frühzeitig aus dem Schulsystem herausfallen, oder maximal den Pflichtschulabschluss schaffen. Das hat wenig mit Religion zu tun, und sehr viel mit Klasse und Bildungshintergrund der Eltern. Wenn man aber die eigentlichen Probleme nicht benennt, kann man sie auch nicht lösen.

Mit deiner Forschung setzt du dem etwas entgegen, indem du den Fokus auf die Ressourcen geflüchteter Menschen legst. Was treibt dich an in deiner wissenschaftlichen Arbeit, worum geht es dir?

Kohlenberger: Hinter meinen Forschungsprojekten steht das Anliegen, ein differenzierteres Bild zu schaffen und vor allem auch – und da bin ich bei der kommunikativen Ebene – gegen Annahmen und Mythen zu arbeiten. Solche Mythen sind leider im Feld der Integration sehr häufig, weil es oft um Neuankommende geht, also um Menschen, über die wir nicht viel wissen. Je unbekannter etwas ist, desto mythenumwobener ist es, und umso wichtiger ist es, Fakten zu schaffen. Ich sage bewusst „zu schaffen“, weil auch Fakten werden gemacht.

Dein aktuelles Forschungsprojekt ist das Women‘s Integration Survey, da geht es um die Integration geflüchteter Frauen in Österreich. Diese Frauen nehmen eine Schlüsselrolle im breiteren Integrationsprozess ein, also in der Organisation und Koordination ihrer Familien und ihrer Communities. Was hast du hier bisher herausgefunden?

Kohlenberger: Das ist natürlich auch ein stark politisches Thema, vor allem jetzt mit der Kombination von Frauen- und Integrationsangelegenheiten in einem Ministerium. Leider dominiert in Österreich ein Opferdiskurs. Es  dreht sich alles um die schwache, unterdrückte Frau aus der arabischen Welt, die zu uns in die Freiheit und Emanzipation kommt. Das entspricht aber überhaupt nicht dem Selbstbild einer Frau, die aus Syrien oder Afghanistan geflüchtet ist. Meine Forschung beschäftigt sich mit den Ressourcen dieser Frauen, aber auch mit ihren Bedürfnissen. Und was sich bisher gezeigt hat, ist, dass für diese Frauen oft genau jene Strukturen und Maßnahmen hilfreich sind, die allen hier lebenden Frauen zugutekommen. Das beginnt bei der Kinderbetreuung, davon profitieren geflüchtete Frauen genauso wie österreichische.

Das klingt ähnlich wie das, was du vorher gesagt hast: Um den Bildungserfolg migrantischer Kinder zu steigern, muss etwas gegen die generell hohe Bildungsvererbung gemacht werden, also progressive Bildungspolitik. Um migrantische Frauen zu unterstützen, braucht es allgemeine gute Kinderbetreuung, progressive Frauenpolitik.

Kohlenberger: Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Trennlinien, die wir zwischen in Österreich geborenen und in Syrien geborenen Menschen hochgezogen haben, meistens nur künstliche Trennlinien sind. Natürlich ist man trotzdem privilegierter, wenn man hier geboren ist. Und daher betreffen alle Versäumnisse, die schon lange aufgezeigt werden – wie eben Kinderbetreuung, oder auch die hohe Teilzeitquote von Frauen – das betrifft geflüchtete Frauen doppelt und dreifach. Alles, was wir im Bereich der Gleichberechtigung noch nicht geschafft haben, schlägt hier besonders auf.

„Ich sehe es als Teil meiner Verantwortung, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen.“

Du zeigst damit, wie unterschiedliche Diskriminierungsdimensionen zusammenwirken – in diesem Fall Migration und Geschlecht.

Kohlenberger: Eine besonders wichtige Dimension ist dabei wiederum der sozioökonomische Hintergrund, weil es geht auch immer um ökonomische Abhängigkeiten. Beispielsweise beim Thema häusliche Gewalt: Die feministische Forschung zeigt schon seit Jahrzehnten, dass finanzielle Unabhängigkeit eine Grundvoraussetzung dafür ist, um sich aus einer gewalttätigen Beziehung befreien zu können. Wenn also die Frauen- und Integrationsministerin sagt, sie will gegen häusliche Gewalt vorgehen, die vor allem migrantische Frauen betreffe, und dann genau diesen Frauen die Mindestsicherung kürzt, dann passt das nicht zusammen. Das ist überhaupt nicht stringent.

Du hast vorher betont, dass Fakten gemacht werden. Du kommst ja ursprünglich aus der Wissenschaftstheorie, hast dort auch promoviert. Inwiefern beeinflusst das deine Rolle als Wissenschafterin, die sich in den öffentlichen Diskurs einmischt?

Kohlenberger: Das ist wahrscheinlich insofern relevant, als dass ich mir in meiner Arbeit bewusst bin, dass absolute Objektivität ein Mythos ist. Es ist wichtig, Objektivität als Ideal anzustreben, vor allem in der empirischen Forschung. Aber sie bleibt eben ein Ideal, das im Grunde nicht zu erreichen ist. Fakten sind nicht neutral, sondern werden gemacht. Als Wissenschafterin schaffe ich Wissen. Und dabei darf ich nicht so tun, als wäre ich absolut neutral und wertfrei. Ich bin als Person historisch, kulturell, geografisch, sozial verortet, ich bin kein Roboter im sozialen Vakuum. Das zeigt sich schon allein dabei, welche Forschungsfragen wir stellen, oder eben nicht. Wichtig ist es, die eigene Verortung zu reflektieren und transparent zu machen – sowohl in wissenschaftlichen Publikationen, als auch dann, wenn man sich gesellschaftspolitisch oder zivilgesellschaftlich engagiert.

Du bist Mit-Initiatorin von „Courage – Mut zur Menschlichkeit“, hast gerade bei der Pressekonferenz zur „Pass-Egal-Wahl“ gesprochen, bist seit Monaten regelmäßig zum Thema Migration und Integration in den Medien zu sehen, hören und lesen. Hast du noch Zeit zum Forschen?

Kohlenberger: In den letzten Wochen weniger (lacht). Aber die meiste Forschung macht man ohnehin in der vorlesungsfreien Zeit, also im Sommer. Was allerdings schon ein Thema ist: Ich bin prekär beschäftigt, also Teilzeit und befristet. Damit bin ich leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. So geht es vielen in meiner Karrierestufe. Das Bemühen um die nächste Stelle, die nächsten Drittmittel, ist eine stetige Anstrengung, und natürlich binden öffentliche Diskussionsbeiträge und Medienarbeit zeitliche Ressourcen, die man in die wissenschaftliche Arbeit stecken sollte. Karrieretechnisch ist öffentliches Engagement nicht unbedingt smart. Eine Professur hat noch niemand bekommen, nur weil er der ZIB2 ein Interview gibt – eher im Gegenteil.

Warum machst du das dann?

Kohlenberger: Erstens weil ich die Möglichkeit und die Ressourcen dazu habe. Da sind wir wieder beim Thema ökonomische Auslese. Ich weiß, wenn es finanziell schwierig werden würde, könnte ich mich auf meine Eltern verlassen. Das ist der sprichwörtliche „golden parachute“, auf den man zurückfallen kann: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die den nicht haben, steigen viel früher aus dem Wissenschaftsbetrieb aus, weil die Karriereverläufe so unsicher sind. Damit setzt sich genau diese Bildungsungleichheit weiter fort. Und zweitens sehe ich es auch als Teil meiner Verantwortung, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen, gerade weil ich an einer öffentlichen Uni arbeite, aus Steuergeldern finanziert. Wenn ganz eindeutig Unwahrheiten über Migration oder Migrant:innen verbreitet werden, juckt’s mich so, dass ich einfach Stellung beziehen muss. Da ist mir manchmal das Tempo in der Wissenschaft zu langsam. Manchmal muss man jetzt was sagen, weil es jetzt brennt – im Fall von Moria leider wortwörtlich.

Abschließend: Was würdest du dir wünschen von progressiven Parteien?

Kohlenberger: Dass sie Migration nicht als etwas Negatives sehen. Ich würde gerne zu dem Verständnis beitragen, dass Migration eine menschliche Konstante ist, Teil der menschlichen Entwicklung und Quelle der menschlichen Innovationskraft. Migration wird es immer geben, egal ob globale Ungleichheiten weiter bestehen oder nicht. Mir ist aber auch klar, wie schwierig es ist, zu diesem Verständnis zu gelangen, weil das Thema emotional sehr aufgeladen ist. Ich bin Kulturwissenschafterin genug, um zu begreifen, dass man dieser Emotionalität auch Rechnung tragen muss. Sonst geht man vorbei an der Wahrnehmung der Wähler:innen, für die Migration eben nun mal emotional behaftet ist, und man geht auch vorbei an der Lebensrealität der Geflüchteten – für die geht es um nicht weniger als ums Überleben. Insofern darf man das Emotionalisieren nicht den Rechten überlassen; diese emotionale Ebene muss man auch ansprechen dürfen, aber eben auf progressive, ressourcenbetonte Art und Weise.

 

Zur Person

Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien und dem Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Für ihre Forschung und Wissenschaftskommunikation im Rahmen des Displaced Persons in Austria Survey (DiPAS) wurde sie mit dem Kurt-Rothschild-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Aktuell leitet sie das Forschungsprojekt Women’s Integration Survey – Inklusion, Teilhabe und Enablement geflüchteter Frauen in Österreich.