Bruno-Kreisky-Preis 2024
Seit 1993 wird vom Karl-Renner-Institut in Zusammenarbeit mit dem SPÖ-Parlamentsklub und der sozialdemokratischen Bildungsorganisation jährlich der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch verliehen. 2022 wurde er um die Preiskategorie „Sozial-ökologisches Wohnen und Zusammenleben“ in Kooperation mit dem Verein für Wohnbauförderung erweitert.
Der Hauptpreis des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2024 geht an Richard Cockett für sein herausragendes Werk „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand“ (Molden 2024). Der Preis für das publizistische Gesamtwerk wird an Francesca Melandri vergeben. Der Anerkennungspreis geht an die Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin Jagoda Marinić, der Journalist Johannes Greß wird mit dem Sonderpreis „Arbeitswelten – Bildungswelten“ ausgezeichnet und der Preis für besondere verlegerische Leistungen geht an den Verlag Jungbrunnen. Der Bruno-Kreisky-Preis für sozial-ökologisches Wohnen und Zusammenleben 2024 geht an "Cooperative Conditions: A Primer on Architecture, Finance and Regulation in Zurich". Die Preisverleihungen finden im ersten Halbjahr 2025 in Wien statt.
Hauptpreis für das politische Buch 2024 an Richard Cockett
Der britische Journalist und Historiker Richard Cockett führt uns in seinem umfassenden Werk „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand“ (Molden 2024) auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung Wiens als intellektuelles und kulturelles Zentrum von Weltrang vor Augen. Wien sei eine Innovationsmatrix gewesen, deren Beitrag für die Geistesgeschichte der Welt des 20. Jahrhunderts mit politischer Innovation und gesellschaftlicher Visionen nicht zu überschätzen sei. Widerstreit und gegenseitige Befruchtung vielfältiger Sprachen, Ideologien und Kulturen war das Triebmittel dieser Versuchsstation der Moderne. Mit einer gelungenen Verbindung von fundierter Recherche und erzählerischem Talent zeigt der Autor, wie Wien als Stadt des Austauschs und der Auseinandersetzung maßgeblich zur Gestaltung moderner Demokratien beigetragen hat. Der Bogen reicht vom Wiener Kaffeehaus und gesellschaftlichen Gegenentwurf des Roten Wiens über Hollywood-Western und Sex sells bis hin zu Einkaufszentren und der Wissensgesellschaft. All das hat seine Wurzeln in Wien. Cockett stellt nicht nur historische Perspektiven umfassend dar, sondern bettet diese für die Leser:innen sehr erkenntnisreich in einen aktuellen Kontext ein. Mit Fug und Recht verweist er darauf, dass all jene, die an einen europäischen Kulturraum glauben, sich für die moderne Geschichte dieser Stadt begeistern sollten. Der Journalist beim Londoner The Economist verdeutlicht, wie eine Rückbesinnung auf die progressiven Ideen der Vergangenheit auch in der Gegenwart Lösungsansätze für soziale, politische und kulturelle Probleme bieten kann.
Dieses Buch ist nicht nur ein Loblied auf Wien, sondern auch ein Plädoyer für die Bedeutung von Städten als Orte des Dialogs, der Kreativität und des Fortschritts. In der geistigen Tradition von Bruno Kreisky betont Cockett die Notwendigkeit eines offenen, pluralistischen, kosmopolitischen und solidarischen Denkens, das weit über nationale Grenzen hinausweist.
Preis für das publizistische Gesamtwerk an Francesca Melandri
Die in Rom geborene Schriftstellerin Francesca Melandri verarbeitet mit literarischer Präzision gesellschaftspolitische Themen und persönliche Geschichten zu komplexen und nuancierten Erzählungen. Sie verknüpft meisterhaft Schicksale aus Vergangenheit und Gegenwart mit historischen und aktuellen Ereignissen. In ihrem Roman „Alle, außer mir“ gelingt ihr dies besonders eindrucksvoll: Melandri verwebt den faschistischen Rassismus der 1930er-Jahre und die Geschichte der italienischen Besetzung Abessiniens 1935 mit den aktuellen Fluchtbewegungen aus Äthiopien sowie dem Leben einer vierzigjährigen Lehrerin in der Gegenwart. „Kalte Füße“ hingegen, ihr jüngstes Buch, verknüpft die Geschichte ihres Vaters als Soldat der italienischen Armee im 2. Weltkrieg in der Ukraine mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dabei geht sie davon aus, dass der von den Deutschen und Italienern geführte Russlandkrieg „in Wahrheit größtenteils ein Ukrainekrieg“ war.
Melandri sagte einmal über ihr Schreiben, dass sie sich dafür immer auf die Suche nach persönlichen, privaten Erzählungen, nach Momenten lebendigen oder gelebten Lebens mache und sehr vielen Zeitzeug:innen zuhöre. Das durchzieht spürbar ihr gesamtes Werk. Mit dieser Fähigkeit, das Vergangene im Gegenwärtigen und das Große im Kleinen erfahrbar zu machen, wurde sie in Bezug auf Geschichte eine Art literarisches Gewissen Italiens und hat sich als eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen europäischen Literatur etabliert.
Ihre Bereitschaft, eigene politische Positionen und Präferenzen kritisch infrage zu stellen, ist eine zusätzliche Quelle Melandris literarischer Größe. Die Schriftstellerin ist der Überzeugung, dass hinter einem guten Roman immer gute Fragen stehen. Das erhellt viele Facetten der Geschichte und macht differenzierte Fragen an eine nervöse und krisengeplagte Gegenwart transparent.
Anerkennungspreis an Jagoda Marinić
Der Anerkennungspreis geht an die deutsche Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin Jagoda Marinić, die mit ihrer Schrift „Sanfte Radikalität“ (S. Fischer 2024) ein leidenschaftliches und zugleich feinfühliges Plädoyer für eine offene und vielfältige Gesellschaft vorlegt. Mit großer sprachlicher Präzision und intellektueller Schärfe erkundet sie die komplexen Verflechtungen von Identität, Zugehörigkeit und sozialem Wandel in einer Welt, die von Diversität geprägt, aber auch von Polarisierung bedroht ist.
Ihr gelingt das Kunststück, in einer von Lautstärke, Radikalität und Konfrontation geprägten öffentlichen Debatte kraftvoll, differenziert und respektvoll zu argumentieren. Marinić zeigt, dass radikale Veränderungen nicht durch Konfrontation, sondern durch Empathie, Dialog und einen festen moralischen Kompass erreicht werden können. Sie fordert Mut zur Veränderung – ohne dabei die Menschlichkeit zu verlieren. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen und Unsicherheiten ist diese Botschaft von großer Dringlichkeit.
Die Jury würdigt besonders, wie Marinić ihre persönliche Perspektive als Schreibende, Beobachtende und als engagierter Mensch mit einer klaren gesellschaftspolitischen Analyse verbindet. Ihr Werk ist ein kraftvoller Appell für den respektvollen Dialog und die Vision einer gerechten und vielfältigen Gesellschaft.
Sonderpreis „Arbeitswelten – Bildungswelten“ an Johannes Greß
Der freie Wiener Journalist Johannes Greß wird mit dem Sonderpreis „Arbeitswelten – Bildungswelten“ ausgezeichnet. Greß beleuchtet in seinem Buch „Ausbeutung auf Bestellung“ (ÖGB Verlag 2024) die blinden Flecken der österreichischen Arbeitswelt und bietet eine eindringliche Analyse moderner Arbeitsrealitäten in einer zunehmend digitalisierten und globalisierten Gegenwart. Greß zeigt auf, wie Plattformökonomien und algorithmische Steuerungen bestehende Arbeitsstrukturen aufbrechen und eine neue Form der Prekarität hervorbringen. Es werden systematisch traditionelle Arbeitsrechte ausgehebelt und eine global verteilte, aber oft sozial marginalisierte Klasse von Arbeitskräften hervorgebracht; nicht irgendwo, sondern vor der eigenen Haustüre.
Der Autor zeichnet ein schonungsloses Bild von Arbeitsbedingungen, die nicht nur untragbar sind, sondern auch durch unser eigenes Konsumverhalten mitverursacht werden: Ungarische Paketzusteller, die bis zu 17 Stunden pro Tag arbeiten. Syrische Essenslieferanten, die für sechs Euro pro Stunde bei jedem Wetter ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Oder indische Frauen, die ohne Papiere für Diplomat:innen und Professor:innen putzen und dabei sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.
Das Buch verbindet auf eindrucksvolle Weise empirische Forschung, theoretische Reflexion und einen dringenden politischen Aufruf. Wenn wir diese Zustände verändern wollen, braucht es nicht nur neue Formen gewerkschaftlicher Organisation, sondern auch eine klare politische Fokussierung auf diese Missstände.
Preis für besondere verlegerische Leistungen an Verlag Jungbrunnen
Der Verlag Jungbrunnen wird mit dem Preis für besondere verlegerische Leistungen ausgezeichnet. Der Verlag, der 1923 als Verlagsbuchhandlung gegründet wurde, ist seit damals eine der herausragendsten Stimmen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Mit einem unverwechselbaren Programm, das Anspruch, Kreativität und gesellschaftliche Relevanz verbindet, trägt der Verlag dazu bei, junge Leser:innen für die Vielfalt von Geschichten und Perspektiven zu begeistern. Alleine das 1972 erstmals erschienene „Das kleine Ich bin ich“ von Mira Lobe hilft Generationen von österreichischen Kindern, sich in einer verwirrenden Welt zu orientieren und ihren Platz zu finden.
Jungbrunnen überzeugt durch seinen Mut, auch schwierige und kontroverse Themen wie Inklusion, Diversität und Nachhaltigkeit in seinen Publikationen aufzugreifen, ohne dabei die Magie kindlicher und jugendlicher Erzählwelten zu verlieren. Der Verlag setzt konsequent auf hochwertige Illustrationen, innovative Ansätze und literarische Qualität und erreicht so Generationen von Jugendlichen, die durch die Bücher nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken angeregt werden.
Die Jury würdigt den Verlag Jungbrunnen für sein nachhaltiges Engagement, kulturelle und politische Bildung zu fördern. Er ermöglicht durch seine unermüdliche Arbeit Kinder- und Jugendliteratur auf höchstem Niveau. Der Verlag ist ein Leuchtturm für die Bedeutung von Literatur als Werkzeug politischer Bildung, demokratischen Bewusstseins und gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Preis für sozial-ökologisches Wohnen und Zusammenleben
Die Autorinnen Anne Kockelkorn, Susanne Schindler und Rebekka Hirschberg von „Cooperative Conditions: A Primer on Architecture, Finance and Regulation in Zurich“ setzen sich eindrucksvoll mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen Architektur, Finanzierungsmechanismen und regulatorischen Rahmenbedingungen auseinander. Der Fokus der Publikation liegt auf Zürich, einem Zentrum der globalen Finanzwelt und Beispiel für den damit verbundenen Druck, den ein vom Finanzsektor dominierter Immobilienmarkt auf die Wohnpraxis der Menschen ausübt. Die Mieten sind in den letzten 25 Jahren um 60 Prozent gestiegen, die Immobilienpreise haben sich im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt. Dennoch wurde in Zürich höchst experimentelle Architektur für neue Formen des Zusammenlebens jenseits gewohnter Vorstellungen von Wohngenossenschaften realisiert. Auf die Fragen, wer einen Haushalt oder einen Familienverband bildet und wie dort gelebt wird, wurden neue Antworten gegeben. Wohnungen für 50 oder mehr Personen, Cluster von Mikroeinheiten, Live-Work-Apartments und neue Formen des Mietens wurden ermöglicht. So ist die schweizerische Metropole eine spannende Fallstudie, die exemplarisch verdeutlicht, wie kooperative Wohnformen und sozial-ökologische Innovationen in einem städtischen Kontext realisiert werden können.
Das Buch eröffnet für den gesamten deutschsprachigen Raum viele nützliche Erkenntnisse und Debatten. Dass der Band in englischer Sprache verfasst ist hilft, diese zentralen Themen international verbreiten und diskutieren zu können.
Das Werk zeichnet sich durch seine präzise Analyse und praxisorientierte Perspektive aus, die den Leser:innen nicht nur ein tiefgehendes Verständnis für die Herausforderungen und Chancen des kooperativen Wohnens vermittelt, sondern auch konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Die Autorinnen verbinden theoretische Expertise mit einer außergewöhnlichen Sensibilität für die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Dimensionen des Wohnens.
Besonders hervorzuheben ist die Art und Weise, wie die Autorinnen architektonische Qualität mit Aspekten von Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen. Sie liefern wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung kooperativer Wohnformen in Städten und tragen damit entscheidend zur aktuellen Debatte um bezahlbaren Wohnraum und ökologische Verantwortung bei.
Das Buch „Dach über dem Kopf“ von Nikolaus Dimmel findet in diesem Jahr eine besondere Erwähnung durch die Jury: Als zweitplatziertes Werk der Shortlist wird es als besonders relevant für die aktuellen Debatten der Wohnungspolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz hervorgehoben. Der Autor ist eingeladen, als Diskutant an der Podiumsdiskussion im Rahmen der Preisverleihung teilzunehmen.